Vermittlung
Der Medienwandel macht sich auf allen Gebieten der Literaturvermittlung deutlich bemerkbar: Verlage, Buchhandel und Bibliotheken, aber auch vermittelnde Instanzen im weiteren Sinne wie die Literaturkritik und die Literaturwissenschaft haben sich verändert. Literaturhäuser und -festivals nutzen die digitalen Vermittlungsformen ebenso wie Archive und Museen. Die diversen Möglichkeiten elektronischer Speicherung und Archivierung schließen nicht allein Umfang und Kapazität ein, sondern auch die Präsentation von Texten, etwa in Form multimedialer Darstellungen. Zahlreiche Forschungsperspektiven eröffnen sich in diesem Feld.
1. Auf direkte, aber auch auf vermittelte Weise zeigen sich Wirkungen der Digitalität in den Formen kommerzieller Literaturvermittlung.
1.1 Erscheinungsform und Vermarktung des Buches haben durch digitale Formate einen signifikanten Wandel erfahren. Neben digitalen Versionen gedruckter Texten stehen literarische Neuerscheinungen sowie Fachliteratur, Fachzeitschriften und Monographien, die ausschließlich in digitaler Form vorliegen. Besonders aktuell sind die Bereiche E-Books und Print on Demand. Die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit E-Books hat sich bislang auf (tendenziell abwehrende) Prognosen beschränkt oder nüchtern die technischen Optionen beschrieben, die sich aus der voranschreitenden Digitalisierung des Buchmarkts ergeben könnten; Publishing Studies, Buch- oder Medienwissenschaften konzentrieren sich dagegen auf die ökonomischen und technischen Bedingungen des neuen Mediums sowie auf die Vor- und Nachteile digitaler Lektüre. Gewinnbringend wären z.B. Studien zu der Frage, welche Folgen sich aus dem Medienwechsel vom sekundären Medium Buch zum tertiären Medium E-Book für Autor/innen, Leser/innen und den Text selbst ergeben und inwieweit sich die steigende Mobilität der Leser/innen auch in ästhetischer Hinsicht auf den ‚digitalen Content‘ auswirkt.
Einen weiteren wichtigen Forschungsgegenstand bilden die Folgen des Digitaldrucks. Print on Demand ermöglicht die kostengünstige, schnelle und flexible Herstellung niedriger Auflagen und mindert für Verlage kostenintensive Risiken wie Auflagenkalkulationen und Lagerhaltungskosten. Autor/innen profitieren von diesen Entwicklungen (zusätzliche Publikationsmöglichkeiten, stärkere Beteiligung am Buchproduktionsprozess durch digitale Herstellungs- und Vertriebsverfahren), tragen aber auch ein höheres Risiko, da sie noch stärker als zuvor in Vorleistung zu gehen haben. Die Auswirkungen der technischen Innovationen auf den europäischen und amerikanischen Buchmarkt und auf die Literaturproduktion sind noch zu erforschen.
1.2 Die Verlage als Akteure vermarkten ihre Produkte auf unterschiedlichste Weise. Zu ihren Marketingstrategien gehören die Lancierung von Spitzentiteln sowie neue Formen der Produktvermarktung und der Sicherung von Kundenkontakten durch Nutzung sozialer Netzwerke. Digitale, multimediale Verlagsprogramme tragen zusätzlich den veränderten Lesegewohnheiten Rechnung. Eine Herausforderung für die Forschung stellen auch die ambivalenten Prognosen angesichts der Veränderungen auf dem Buchmarkt dar: Fördern die neuen medialen Möglichkeiten eine ‚Demokratisierung‘ im literarischen Feld, oder bedeutet die Konzentration auf Spitzentitel in den Verlagsprogrammen und Buchläden nicht vielmehr eine zunehmende Beschränkung des Zugangs? Zu untersuchen wäre z.B. die Rolle, die Verlage und Agenturen bei der Vermarktung von Weltbestsellern spielen.
Auch die Tätigkeitsfelder der Literaturagenturen haben sich verändert, zumal das Internet einen weit über die nationalen Vermarktungswege hinausgehenden Radius eröffnet. Die im Graduiertenkolleg festgeschriebenen Praktika ermöglichen es den Kollegiatinnen und Kollegiaten, sich mit diesen Auswirkungen der digitalen Literaturvermittlung auf das Buch- und Verlagswesen auseinanderzusetzen und diese praktischen Erfahrungen in ihre Forschungsarbeiten einzubeziehen.
1.3 Verschiedene Medienformate haben in den letzten Jahren vermehrt an Bedeutung gewonnen. Zu den erfolgreichen Formen digitaler Vermittlung gehören die diversen Möglichkeiten literarischer Adaptation, die zur Popularisierung und Aufhebung der Differenz von High und Low Culture entscheidend beigetragen haben: Hörbücher haben in vielen Ländern die Märkte erobert und sind wie das E-Book nicht an die Stelle der traditionellen Printmedien getreten, sondern als Ergänzung dazu. Interaktive Medien wie Computerspiele greifen ebenso auf literarische Texte zurück wie Filme – und umgekehrt lässt sich der Medienwechsel in die andere Richtung in Form der novelization von Filmen und Computerspielen beobachten. Unerforscht sind zudem die Auswahlkriterien für literarische Filmadaptationen, die sich nicht immer mit dem Erfolg der Buchvorlagen erklären lassen, sowie die Frage, wie und aus welchen Gründen erfolgreiche europäische Literaturverfilmungen in den USA nahezu zeitgleich noch einmal filmisch umgesetzt werden.
2. Neue und modernisierte Wege der nicht-kommerziellen Literaturvermittlung gilt es ebenfalls unter der leitenden Fragestellung des Kollegs zu untersuchen.
2.1 Die Bedingungen und Funktionsweisen verschiedener literaturvermittelnder Einrichtungen im Netz sind zu erforschen. So finden z.B. kommerziell wenig einträgliche literarische Gattungen auf Online-Plattformen, in Communities oder Online-Zeitschriften neue Publikationswege. Die Gattung Lyrik etwa wird in Großbritannien, Kanada und Australien inzwischen überwiegend digital publiziert. Als Folge dieser Entwicklung zeichnet sich bereits ein Mangel an wissenschaftlichen Untersuchungen zu zeitgenössischer anglophoner Lyrik ab. Mit den traditionelle Verfahren ergänzenden oder ablösenden Veröffentlichungsmöglichkeiten gehen darüber hinaus alternative Formen der Textgestaltung einher.
Die Internetpräsenz von Autoren stellen ebenfalls einen lohnenswerten Gegenstand für Projekte dar. So stehen neben den Verlagsankündigungen zu Autoren auch deren selbst inszenierte Auftritte und Selbstvermarktungen sowie Paratexte mit Zusatzinformationen, die jederzeit abrufbar sind.
2.2 Einrichtungen nicht-kommerzieller Literaturvermittlung mit dominanter Präsentationsfunktion sind z.B. Literaturhäuser und Literaturfestivals und Literaturmuseen. Die Popularität von Autorenlesungen, poetry slams und Literaturfestivals bestätigt einerseits die in den verschiedensten kulturellen Kontexten zu beobachtende ‚Renaissance des Hörens‘; dies unterstützen auch die neue Wege der Literaturvermittlung an Schulen und Universitäten, etwa Poetikvorlesungen und writers-in-residence Programme. Andererseits haben aber auch gravierende infrastrukturelle Neuerungen die literarische Veranstaltungskultur in den letzten Jahren maßgeblich verändert: Mit den Literaturhäusern haben sich kommunale Einrichtungen, die in erster Linie literarischen Veranstaltungen wie Autorenlesungen oder Buchpräsentationen gewidmet sind, seit den 1980er Jahren in Deutschland, Österreich, der Schweiz und in Skandinavien fest etabliert. Auch wenn erste Untersuchungen zur Förderungspolitik und Kanonisierungsfunktion von Literaturhäusern vorliegen, sind diese Institutionen doch noch zu wenig erforscht. Untersuchungen zu Literaturmuseen und literarischen Memorialstätten (z.B. literarischen Gedenkstätten, Dichterhäusern, literary houses, Literaturausstellungen) und zu den zahlreichen literarischen Gesellschaften bilden, vor allem vor dem Hintergrund des Einsatzes digitaler Medien, ebenfalls ein dringendes Forschungsdesiderat. Besonders fehlen Arbeiten, die sich auf wissenschaftlicher Basis mit neueren Ausstellungskonzepten befassen.
2.3 Zu den Einrichtungen nicht-kommerzieller Literaturvermittlung mit dominanter Archiv- bzw. Speicherfunktion zählen z.B. Archive und Bibliotheken. Die diversen Möglichkeiten zur Archivierung und Speicherung tragen zu einer neuen Dimension der Verbreitung und Konservierung von Literatur bei. Virtuelle Bibliotheken und Datenbanken haben zwar den Zugang auch zu kanonisierten wie entlegenen Texten grundlegend erleichtert, bergen aber wegen der sich schnell entwickelnden Technik auch das Risiko von Flüchtigkeit. Darüber hinaus begründen nicht alle Einrichtungen ihre Kriterien für die getroffene Auswahl. Angesichts der Vielzahl von Digitalisierungsprojekten stellt sich die Frage, inwieweit kanonisierte Texte bestätigt werden oder in welchem Maße Kanones revidiert werden. Ebenfalls noch nicht eingehend betrachtet wurden die Möglichkeiten digitaler Archivierung zur Konstituierung eines kulturellen Gedächtnisses sowie die Reaktion von Literaturarchiven und Bibliotheken auf die Herausforderung von Langzeitarchivierung. Aus der fremdsprachenphilologischen Perspektive stellt sich zudem die Frage, inwiefern bei der musealen Literaturvermittlung nationale Kriterien eine Rolle spielen.