Rezeption

Was ist anders und neu an der Rezeption von Literatur im digitalen Zeitalter? Unter ‚Rezeption‘ wird in diesem Forschungsfeld zum einen sehr allgemein die Wahrnehmung und mentale Verarbeitung von Literatur ab dem Moment ihrer Vermittlung im engeren Sinne verstanden, und zum anderen ihre Verarbeitung in einem institutionellen Sinne. Unter der leitenden Fragestellung ‚Rezeption‘ eröffnen sich mindestens vier Themenbereiche.

1. Literaturpreise bilden wichtige Gegenstände der Rezeptionsforschung, auch wenn sie institutionell primär im Bereich der Vermittlung und Vermarktung anzusiedeln sind. Literaturpreise rücken Autor/innen national wie international ins Licht der Aufmerksamkeit. Angenommen wird, dass nationale Preise wie der Deutsche Buchpreis, der Pulitzer Prize in den USA oder der Premio Nacional de las Letras Españolas, aber auch gattungsspezifische Preise für die Wahrnehmung literarischer Texte eine wesentliche Rolle spielen und eine wichtige Gatekeeper-Funktion haben. Es gilt zu erforschen, auf welche Weise sie die öffentliche Wahrnehmung, den Absatz und die Verkaufsstrategien beeinflussen und steuern.

2. Unter dem Rezeptionsaspekt zu untersuchen ist das Rezensionswesen seit den 1980er Jahren, vor allem in seiner Spannung zwischen der traditionellen feuilletonistischen Literaturvermittlung und dem Phänomen der Laienkritik. Welche Reaktionsmuster, Distinktionsstrategien und Vermittlungstendenzen lassen sich auf beiden Seiten beobachten? Die Laienkritik steht oft im kommerziellen Kontext des Online-Versands und wird dort mit Rankings und Marketingstrategien verbunden: Rezipient/innen vergleichen Meinungen anderer Leser/innen, machen sich ein Bild über Verkaufserfolge und erhalten personalisierte Buchempfehlungen. An der Laienkritik durch einzelne sowie miteinander vernetzte User zu bestimmten Autor/innen oder Texten lässt sich die verstärkte Interaktivität solcher Kritik im Internet verdeutlichen. Sie stellt eine spezifische und neuartige Form der Soziabilität dar, die das Internet ermöglicht hat und die qualitativ zu analysieren ist.

Ebenfalls zu erforschen wäre der Einfluss von Radiokultursendern, die durch die digitale Form des Podcast die Möglichkeit von Audio-on-Demand anbieten. Als Format offerieren Podcasts z.B. ausführliche Autorengespräche, erweitern so das Spektrum und machen den Umgang mit einem traditionellen Medium der Literaturrezension flexibler.

3. Andere als Rezeptionsphänomene zu untersuchende Formate bilden Blogs, private Websites, Fan-Projekte, elektronische Lesezirkel und Lese-Apps. In diesen Formaten wird der literarische Salon quasi ins Netz verlegt. Relevant in diesem Zusammenhang sind u.a. das Nutzungsverhalten einzelner Beteiligter und Aspekte der Performanz wie etwa virtuelles Identitätsmanagement. Untersucht werden könnten hier neue Formen des Lesens, Social Reading im Internet.
Ein ausgesprochen forschungswürdiges Thema in Zeiten massiver Absatzsteigerung von E-Books, Kindle und iPad ist die Literaturrezeption mit Hilfe elektronischer Lesegeräte. Vollzieht sich gegenwärtig ein signifikanter Medienwandel vom klassischen Buch zum Tablet? Und wie verändern diese Formen des Lesens die Wahrnehmung von Literatur? Die Debatte über Lesegeräte betrifft selbstverständlich nicht nur den Bereich der Rezeption, sondern auch die Produktion und Vermittlung von Literatur. Zu betrachten wäre hier, wie sich Verlagspolitik und Öffentlichkeitsarbeit im Zeitalter der Digitalisierung wandeln – auch im internationalen Vergleich. Generell geht es dabei auch um Fragen der Autorschaft, des Urheberrechts, Bereiche elektronischer Editionspraxis und die technischen Dimensionen von Digitalisaten.

4. Ein weiteres Themenfeld bietet der Metadiskurs über Literatur und Literaturvermittlung im Zeitalter der Digitalisierung: Noch zu wenig untersucht sind etwa die Debatten über die Zukunft des Mediums Buch zwischen Krisenprognosen und Medienhype, vor allem in Hinsicht auf ihre Voraussetzungen, Strategien und Präsentationsformen sowie ihre Traditionen. Auch die Folgen der neuen Formen digitaler, vernetzter Literatur für die literaturwissenschaftlichen Beschreibungs- und Analysekategorien sind noch nicht ausgelotet.