Kunstwerk des Monats im Oktober 2019
06. Oktober 2019
Hans Baldung Grien: Der Leichnam Christi, von Engeln in den Himmel getragen (1515/17)
Vorgestellt von: Prof. Dr. Thomas Noll
Als einer der jüngsten unter den großen Meistern der Malerei und Graphik in Deutschland am Übergang vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit gehört der wahrscheinlich in Schwäbisch Gmünd 1484/85 – also mindestens dreizehn Jahre nach Albrecht Dürer und zwölf Jahre nach Lucas Cranach d.Ä. – geborene Hans Baldung, genannt Grien, nicht mehr zu den Wegbereitern und Pionieren einer neuen Kunst. Er konnte bereits auf die epochalen Errungenschaften vor allem von Dürer zurückgreifen, in dessen Nürnberger Werkstatt Baldung als ausgebildeter Geselle möglicherweise um 1503 eintrat und dort bis 1507 blieb. Aber nicht Dürer nur, sondern auch Cranach, Albrecht Altdorfer und Mathis Gothart Nithart (‚Grünewald‘) waren Meister, mit denen Baldung sich auseinandersetzte und augenscheinlich maß; denen er sowohl eine eigenständige Formensprache als auch ikonographische Neuerungen entgegensetzte, die sich als Ausdruck künstlerischer Originalität ebenso wie als das Bemühen um eine auskömmliche Marktposition verstehen lassen.
Zu Baldungs faszinierendsten ikonographischen Inventionen gehört ein um 1515/17 zu datierender Holzschnitt (22,3 x 15,3 cm). Der Blick wird in schwindelerregende Himmelshöhen gelenkt. Man sieht in der unteren Bildhälfte groß im Vordergrund, wie vor breiten Wolkenbändern der Leichnam Jesu in einem Tuch von vier Engeln emporgetragen wird. Ein fünfter Engel hält bzw. zeigt die Dornenkrone, während eine unzählige Schar weiterer Engel aus fernen Himmelssphären herabschwebt, wo zuletzt klein die Heilig-Geist-Taube erscheint und in einer Lichtaureole Gottvater zu erkennen ist, der mit ausgebreiteten Armen auf seinen toten Sohn herniederblickt.
Die Darstellung fügt sich zunächst grundsätzlich ein in die Passionsfrömmigkeit und -ikonographie des späten Mittelalters, doch lässt sich kein Ereignis der Leidensgeschichte, ebenso wenig wie die Auferstehung und Himmelfahrt Christi mit dieser Szene in Verbindung bringen. Angesichts der Trinität bestehen allerdings Beziehungen zum Motiv des ‚Gnadenstuhl‘ (Gottvater, der seinen Sohn am Kreuz vorweist, dazu die Heilig-Geist-Taube) und der ‚Not Gottes‘ (Gottvater, der seinen toten Sohn aufrecht hält und präsentiert, zudem wieder die Heilig-Geist-Taube); enger noch ist der Zusammenhang mit der ‚Engelpietà‘ (dem toten Christus oder dem Schmerzensmann, der von Engeln gestützt oder flankiert und dem Betrachter dargeboten wird). Doch handelt es sich hier jeweils um unerzählerische, überzeitliche Motive, während Baldungs Blatt ein szenisches Geschehen bietet.
Dargestellt ist mit dem Leichnam Jesu das Erlösungsopfer des Sohnes, das Engel zu Gottvater in den Himmel bringen. Einmal am Kreuz auf Golgota hat Christus sich, um der Gerechtigkeit Gottes Genüge zu tun, zur Erlösung der von der Erbsünde gebundenen Menschen geopfert. Immer aufs Neue aber wird er, unblutig, in der Messfeier geopfert und Gott dargebracht. In diesem Sinne, und das heißt im Kontext der spätmittelalterlichen Messfrömmigkeit, könnte Baldungs Holzschnitt zu begreifen sein. Wie die Messfeier im allegorischen Verständnis das Passionsgeschehen widerspiegelt, so steht der Leichnam Jesu hier mutmaßlich für das ‚corpus Domini‘, den Fronleichnam, die geweihte Hostie, das heißt für den eucharistischen ‚Leib des Herrn‘, der, wie man glaubte, in der Messfeier nach der Wandlung (Transsubstantiation) von Engeln als Opfergabe zu Gott emporgetragen wird; mit den Worten des Zelebranten: getragen wird „durch die Hände Deines heiligen Engels auf Deinen allerhöchsten Altar, vor das Angesicht Deiner göttlichen Majestät“. Trifft diese Deutung zu, so hätte Baldung in einem künstlerisch herausragenden Holzschnitt einer zentralen theologischen Lehrmeinung der Zeit eine packend-anschauliche Gestalt von unvergleichlicher Einprägsamkeit verliehen.