Kunstwerk des Monats September 2017


03. September 2017
Émile Béchard oder wie die Fotografie das Studio verließ
Vorgestellt von: Verena Suchy

KdM Sept 17In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts etablierte sich ein regelrechter Massentourismus in den Ländern des Orients. Europäische Touristen nutzten die neu eingerichteten Dampfschifffahrtslinien nach Ägypten und Istanbul oder buchten eine der ersten Pauschalreisen des Anbieters Thomas Cook und informierten sich in den ebenfalls neu erschienenen Reiseführern wie dem Baedeker über ihre exotischen Ziele. Fotografien waren ein beliebtes Reisesouvenir. Sie konnten direkt vor Ort bei europäischen Fotografen erworben werden, die in den orientalischen Metropolen wie etwa Kairo oder Istanbul ihre Fotostudios eröffnet hatten.
Einer dieser Fotografen ist der in Frankreich geborene Émile Béchard (1844–1891), der 1873 in Kairo im europäisch geprägten Ezbekija-Viertel ein eigenes Studio bezogen hatte. Nachdem Fotografien von Monumenten, Landschaften, Altertümern und Sehenswürdigkeiten lange den fotografischen Markt dominiert hatten, verlangte der touristische Geschmack nun nach scheinbar individuelleren Bildschöpfungen. Die Menschen des Orients, ihre typischen Kostüme und traditionellen Berufe rückten in den Fokus. Angestrebt wurden dabei Darstellungen, die den orientalischen Alltag auf möglichst authentische Weise abbilden sollten – wiewohl die aus diesem Anspruch resultierenden Bildschöpfungen gleichfalls hoch artifiziell und mit stereotypen aufgeladen waren.
Fotografen holten sich dafür zunächst einheimische Modelle in ihre Studios platzierten sie vor neutralen Studiohintergründen oder vor Fototapeten. Der nächste Schritt war es, Versatzstücke orientalischer Architektur und Straßenzüge im geschützten Zwischenraum des Hinterhofs eines Fotografenstudios nachzubauen und dort scheinbare Straßenszenen nachzustellen. Émile Béchard nimmt in diesem Prozess eine Schlüsselrolle ein. Er ist einer der ersten Fotografen, der die Kamera tatsächlich in den Straßen, auf den Märkten und in den Häusern Kairos aufstellt und so Bilder mit einem bis dato unerreichten Wahrheitsanspruch kreiert.

Dies ist im nur möglich, weil er eng mit einem lokalen ägyptischen Machthaber, Cheik el-Sadat, zusammenarbeitet und die Erlaubnis hat, in dessen Palast Aufnahmen anzufertigen. Diese Zusammenarbeit belegt die Vielschichtigkeit und Doppelbödigkeit des Mediums Orientfotografie: Die Fotografie wird einerseits benutzt, um einen stereotypen, touristischen europäischen Massengeschmack zu bedienen, andererseits benutzen auch indigene Eliten wie Cheik el-Sadat die Fotografie zur Selbstrepräsentation.