Kunstwerk des Monats im Juni 2011
05. Juni 2011
Die Gipsabgüsse mittelalterlicher Sakralkunst in Göttingen
Vorgestellt von: Linda Eggers, M.A.
Dass die einst zumeist zu Lehrzwecken angeschafften Gipsabgusssammlungen des 18. und 19. Jahrhunderts mittlerweile selbst historischen Wert besitzen, ist in Göttingen schon lange bekannt. Durch ihre bloße Existenz vermitteln sie uns einen Eindruck davon, was dem damaligen Zeitgeschmack entsprach, welche Kunstwerke man als der Reproduktion wert betrachtete, unter welchen Schwerpunkten solche Sammlungen zusammengestellt wurden und welche Objekte vor den Weltkriegen überhaupt schon – oder noch – bekannt waren.
Die Kunstsammlung besitzt neben den Abgüssen von Renaissanceplastiken eine kleine Sammlung an Gipsabgüssen bedeutender Werke der mittelalterlichen Sakralkunst. Dazu zählen unter anderem Abgüsse von Altargerät, Grabplatten sowie Teilabgüsse von Reliquienkästen. Eines der bedeutendsten, hier in Gips abgegossenen Werke ist der sogenannte Bernhardkelch aus dem Schatz der Godehard-Kirche in Hildesheim (Foto). Er stammt aus dem 1. Viertel des 13. Jahrhunderts, vermutlich ursprünglich aus St. Michael. Der Kelch ist hier in einzigartiger Weise reproduziert worden: im Verbund mit seiner dazugehörigen Patene ist er in einem Stück in Gips abgegossen worden. Weitere kurz zu thematisierende Gipsabgüsse sind jene der Propheten- und Apostelfiguren von den Seitenwänden des Kölner Dreikönigenschreins, das Grabmahl Heinrichs des Löwen und seiner Gemahlin aus dem Braunschweiger Dom und die berühmte Elfenbeintafel aus dem Trierer Domschatz.
Die Gipsabgüsse wurden der Kunstsammlung 1981 vom Niedersächsischen Landesmuseum Hannover überlassen. Sie wurden also nicht, wie dies bei den meisten im Besitz von Universitäten befindlichen Gipsabgusssammlungen der Fall ist, originär zu Lehrzwecken in Auftrag gegeben oder angekauft. Die Geschichte der Sammlung lässt sich bis ins Jahr 1861 zurückverfolgen. In diesem Jahr gründete der hannoversche König Georg V. das Welfen-Museum in Hannover.
Die Gründung des Welfen-Museums und auch die Anfertigung der Göttinger Mittelalter-Gipse sind eng verknüpft mit der Entstehung der ersten deutschen Nationalmuseen sowie mit einem neuen wissenschaftlichen Anspruch an Museen und Sammlungen. Die Göttinger Gipssammlung ist somit sowohl für die Kunstgeschichte als auch für die Geschichte des 19. Jahrhunderts von großer Brisanz.