Klassische Archäologie in Göttingen. Ein kurzer geschichtlicher Überblick
1767–1840: Die Anfänge
In der Geschichte der Archäologie als einer an Universitäten gelehrten wissenschaftlichen Disziplin nimmt Göttingen eine besondere Stellung ein. Hier wurde seit 1767 zum ersten Mal überhaupt an einer Universität eine Fachvorlesung über Archäologie angeboten, von dem Professor der „Poesie und Beredsamkeit“ Christian Gottlob Heyne (1729–1812), der seit 1763 in Göttingen Klassische Philologie lehrte und zugleich die Universitätsbibliothek leitete. Die Vorlesung war so erfolgreich und bald europaweit so berühmt, dass Heyne sie in den folgenden vier Jahrzehnten beinahe in jedem Sommersemester wiederholte.
Ort der Vorlesung, die Heyne in kritischer Anlehnung an die kurz zuvor publizierten, epochemachenden Schriften Johann Joachim Winckelmanns (Geschichte der Kunst der Alterthums, 1764) hielt, waren die Säle der Universitätsbibliothek mit ihren herausragenden Beständen an kostbaren Stichwerken zur antiken Kunst aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Heyne erkannte von Beginn seiner Vorlesung an, daß Kupferstiche allein nicht ausreichten, um seinen Hörern die von ihm ausführlich behandelten Meisterwerke der antiken Bildhauerkunst nahezubringen. Bereits 1765 hatte er mit der Erwerbung von Gipsabgüssen griechischer und römischer Skulpturen begonnen, die in den Büchersälen der Bibliothek aufgestellt wurden.
In Heynes langer Göttinger Wirkungszeit, die ihn zum einflussreichsten Professor der Georg-August-Universität aufsteigen ließ, wuchs die von ihm gegründete Abguss-Sammlung beständig an und umfasste bei seinem Tode ungefähr 70 Statuen, Büsten und Reliefs.
Die Archäologie war durch Heyne so fest als Lehrfach an der Göttinger Universität verankert worden, dass man 1816 bei der Berufung Friedrich Gottlieb Welckers (1784–1868) als Professor für Klassische Philologie diesem ausdrücklich auferlegte, Heynes Archäologie-Vorlesung weiterzuführen. Welcker war bereits 1809 als „Professor für griechische Literatur und Archäologie“ an die Universität Gießen berufen worden, auf den ersten Lehrstuhl, der die Archäologie ausdrücklich im Namen trug. Dies qualifizierte ihn in besonderem Maße, die von Heyne in Göttingen begründete Tradition fortzusetzen. Im Gegensatz zu Heyne, der nie nach Italien gereist war, kannte Welcker Rom und andere klassische Stätten Italiens aus eigener Anschauung. In Göttingen gründete er 1818 das erste (wenn auch sehr kurzlebige) archäologische Fachjournal in Deutschland, die Zeitschrift für Geschichte und Auslegung der alten Kunst. Bereits 1819 verließ er Göttingen, um als Professor und Leiter der Universitätsbibliothek an der neugegründeten Universität Bonn das „Akademische Kunstmuseum“ aufzubauen, das dort nach dem Vorbild der Heyne’schen Gipssammlung (aber mit ungleich großzügigerer finanzieller Ausstattung) eingerichtet worden war.
Nachfolger Welckers in Göttingen wurde 1819 der erst 22jährige Philologe Karl Otfried Müller (1797–1840), der sich in den folgenden Jahren zu einem der bedeutendsten Gelehrten der Universität Göttingen und zu einem der größten Altertumswissenschaftler des 19. Jahrhunderts entwickeln sollte. In seinen Lehrveranstaltungen und in seinen in dichter Folge erscheinenden Publikationen leistete er gleichermaßen Grundlegendes auf dem Gebiet der Klassischen Philologie, der Alten Geschichte und der Klassischen Archäologie. Letztere lag ihm besonders am Herzen. Die von Heyne begründete Archäologie-Vorlesung setzte er auf aktuellstem Forschungsstand fort und entwickelte daraus das erste wissenschaftlich vollgültige Handbuch des Faches, das Handbuch der Archäologie der Kunst, das erstmals 1830 herauskam und – mehrfach neu bearbeitet und nachgedruckt – bis in das späte 19. Jahrhundert hinein als maßgeblich galt. Für die Abguss-Sammlung erhielt Müller einen eigenen Saal im Untergeschoss der Paulinerkirche, in dem er vor den Gipsabgüssen seine archäologische Vorlesung hielt. Die spektakulärste seiner verschiedenen Neuerwerbungen für die Sammlung gelang ihm 1829, als der englische König Georg IV. seiner hannoverschen Landesuniversität auf Betreiben Müllers einen umfangreichen Satz von Abgüssen nach den erst kurz zuvor im Britischen Museum aufgestellten „Elgin Marbles“ zum Geschenk machte, den Skulpturen vom Parthenon und anderen Athener Bauten, die Lord Elgin um 1800 nach England gebracht hatte.
1839 brach Müller zu einer seit langem ersehnten Italien- und Griechenlandreise auf, die ausdrücklich auch dazu dienen sollte, antike Originalwerke für die Göttinger Universitätssammlung anzukaufen. Müller starb allerdings bereits 1840, kaum 43jährig, auf dieser Reise in Athen, nachdem er erst eine geringe Zahl von antiken Objekten erworben hatte.
1840–1907: Die Gründung des Seminars und der Ausbau der Sammlungen
Schon während Müllers Beurlaubung hatte in Göttingen sein Schüler Friedrich Wieseler (1811–1892) die Vertretung der archäologischen Lehrveranstaltungen übernommen. Diese Aufgabe blieb ihm auch nach dem plötzlichen Tode Müllers erhalten, verbunden mit der Beaufsichtigung der archäologischen Sammlungen (der Abgüsse und der ebenfalls von Heyne begründeten Münzsammlung), die nun unter der Bezeichnung „Archäologisch-numismatisches Institut“ einen selbständigen, von der Universitätsbibliothek administrativ getrennten Status erhielten. 1842 wurde Wieseler zum Extraordinarius ernannt und 1854 zum ordentlichen Professor.
In seinem Bemühen, der Archäologie eine von der Philologie losgelöste institutionelle Stellung zu verschaffen, war Wieseler sehr erfolgreich: 1844 gründete er ein eigenes Archäologisches Seminar, d.h. eine mit fünf Stipendien für angehende Archäologen ausgestattete Ausbildungsstätte (im Gegensatz zum „Institut“, unter dem er die Sammlung verstand). Göttingen behauptete damit seine Rolle als Vorposten der nach fachlicher Autonomie strebenden Archäologie. Bedeutende Nachwuchswissenschaftler kamen nach Göttingen, um sich unter Wieselers Ägide zu habilitieren: Alexander Conze (1861), Otto Benndorf (1868), Friedrich Matz d. Ä. (1870), Friedrich von Duhn (1879), Gustav Körte (1880) und Arthur Milchhoefer (1882).
Die Sammlung der Gipsabgüsse und die Münzsammlung, vor allem aber die von Müller begründete Sammlung antiker Originalwerke wurde von Wieseler erheblich erweitert. Sein Schüler und Mitarbeiter Georg Hubo veröffentlichte 1887 zu Wieselers 50. Doktorjubiläum einen Katalog der Originalwerke, der 1500 Nummern umfasst. Da der von Müller eingerichtete Antikensaal schon bei Wieselers Amtsantritt nicht mehr ausreichte, mussten neue Räume gesucht werden. 1844 zog die Sammlung in das 1837 erbaute klassizistische Aulagebäude am Wilhelmsplatz um. Angesichts des raschen Anwachsens der Sammlung erwiesen sich auch diese Räume bald als zu eng.
Erst in hohem Alter ließ Wieseler sich 1889 dazu bewegen, die Leitung des Archäologisch-Numismatischen Instituts abzugeben. Sein Nachfolger wurde der Klassische Philologe Karl Dilthey (1839–1907), jüngerer Bruder des Philosophen Wilhelm Dilthey. Er hatte zuvor in Zürich bereits einen Lehrstuhl für Klassische Philologie und Archäologie innegehabt und bemühte sich sehr um den Ausbau der Göttinger Sammlung. Jedes Jahr fuhr er nach Italien, um neue Vasen und andere Antiken für Göttingen zu erwerben. 1893 wechselte er nach dem Tode Wieselers ganz auf den archäologischen Lehrstuhl.
1907–1972: Aufbruch und Rückzug
Auf die in wissenschaftlicher Hinsicht nicht sonderlich produktive Ära Dilthey folgte nach dessen Tod 1907 eine der dynamischsten Entwicklungsphasen in der Geschichte der Göttinger Archäologie. Mit Gustav Körte (1852–1917) gelang die Berufung eines der prominentesten und rührigsten Vertreter des Faches in dieser Zeit. Außer durch wichtige Arbeiten zur griechischen Archäologie hatte Körte sich vor allem als Etruskologe und als Ausgräber der phrygischen Hauptstadt Gordion im westlichen Kleinasien einen Namen gemacht. Die Göttinger Sammlungen verdanken ihm u.a. die Erwerbung bedeutender etruskischer Kleinbronzen, vor allem aber die großzügige Unterbringung in dem neuen Seminargebäude, das 1910–12 am Nikolausberger Weg errichtet wurde und in dem auf Betreiben Körtes allein 8 große Säle für die Sammlung der Gipsabgüsse vorgesehen wurden. Diese wurde durch Körte dadurch erheblich erweitert, dass er einen ihm persönlich von der Familie Krupp in Essen, mit der er seit seiner Jugendzeit freundschaftlich verbunden war, geschenkten Geldbetrag von 10.000 Goldmark für die Erwerbung zahlreicher neuer Abgüsse nutzte.
Ähnlich produktiv wie Körte war sein Assistent Paul Jacobsthal (1880–1957), der sich 1909 in Göttingen habilitierte und 1912 das wichtige Buch Göttinger Vasen veröffentlichte, bevor er einem Ruf auf den archäologischen Lehrstuhl der Universität Marburg annahm. 1935 wurde dieser bedeutende und vielseitige Gelehrte, der auch für ‚Randbereiche’ der Klassischen Archäologie wie die Erforschung der keltischen Kunst Grundlegendes geleistet hat, zur Emigration nach England gezwungen. Sein Nachfolger auf der Göttinger Assistentenstelle war Kurt Müller (1880–1972). Wie Jacobsthal beschäftigte sich auch Müller nicht nur mit den Hauptthemen des Faches, sondern auch mit weniger erforschten Gebieten, speziell mit der kretisch-mykenischen Archäologie. Eines seiner heute wieder besonders aktuellen Forschungsthemen ist die farbige Bemalung antiker Marmorskulpturen, die er im Göttinger Institut anhand von Gipsabgüssen zu rekonstruieren versuchte.
1917 starb Körte erst 65jährig überraschend bei einer Blinddarmoperation. Sein Tod, aber auch die Niederlage Deutschlands im 1. Weltkrieg markieren eine deutliche Zäsur in der Geschichte des Göttinger Archäologischen Instituts, das nominell eigentlich erst durch Körte gegründet worden war, durch Zusammenführung der seit Wieseler getrennt nebeneinander existierenden Einrichtungen des Archäologischen Seminars und der als Archäologisch-Numismatisches Institut bezeichneten Sammlungen.
Körtes Nachfolger war Hermann Thiersch (1874–1939), der aus der bekannten Münchner Gelehrten- und Architektenfamilie stammte und sich vor allem durch sein monumentales Buch über den Leuchtturm von Alexandria hohe wissenschaftliche Anerkennung erworben hatte. Von seiner Wesensart scheint er jedoch eher ein zurückhaltender, kontemplativ veranlagter Mensch gewesen zu sein, dem die Durchsetzungskraft Körtes fehlte und der nach 1933 – aus familiären Gründen von den Nationalsozialisten diffamiert – den Weg der Inneren Emigration ging. Wissenschaftsgeschichtlich von großer Bedeutung war die Forschungstätigkeit von Gerhard Krahmer (1890–1931), der sich 1925 bei Thiersch mit der Arbeit Stilphasen der hellenistischen Plastik habilitierte, einer radikal formanalytisch ausgerichteten Studie, die großen Einfluss auf die nachfolgende Forschung ausübte. Da Thiersch 1937 schwer erkrankte und der Lehrstuhl nach seinem Tode nicht unmittelbar neu besetzt wurde, kam dem nach seiner Habilitation seit 1921 als außerordentlicher Professor am Institut tätigen Kurt Müller während der Jahre des Zweiten Weltkriegs und in den ersten Nachkriegsjahren eine besondere Rolle zu. Er hielt den Lehrbetrieb aufrecht und rettete die wertvolle Institutsbibliothek vor der Zerstörung.
Nachfolger Thierschs wurde Rudolf Horn (1903–1984), der sein Amt erst nach Kriegsende 1946 antreten konnte, zunächst als Extraordinarius und seit 1952 als Ordinarius. Horn war wie Krahmer ein Spezialist für die Plastik der hellenistischen Zeit. Unter seiner Leitung spielte das Göttinger Institut, wie schon in den beiden Jahrzehnten zuvor, nicht mehr die prominente Rolle in der Archäologie, die es bis zum Ende des Ersten Weltkriegs eingenommen hatte.
1972 – heute: Neue Impulse in Forschung und Lehre
Dies änderte sich erst 1972 mit der Berufung von Paul Zanker aus Freiburg (*1937), der, obwohl er bereits 1976 nach München weiterging, das Göttinger Institut rasch zu einem Mittelpunkt der archäologischen Forschung in Deutschland machte. Durch seine neuartige, auf die politische und soziale Kontextualisierung der antiken Denkmäler ausgerichtete Betrachtungsweise verschaffte er dem Institut internationale Aufmerksamkeit (u.a. durch den wichtigen Kongress Hellenismus in Mittelitalien 1974) und zog zahlreiche Studenten nach Göttingen. Der jahrzehntelang kaum vergrößerten Abguss-Sammlung verhalf er zu ganz neuer Bedeutung, indem er sie für seine Spezialgebiete, die Kopienforschung und die Analyse römischer Porträts, systematisch ausbaute. Unterstützt wurde er hierbei von Christof Boehringer (*1934), der bereits 1967 die kurz zuvor geschaffene Stelle eines Kustos der Sammlungen des Instituts angetreten und eine grundlegende Neugestaltung der Abguss-Sammlung in Angriff genommen hatte.
Zankers Aktivitäten fanden ihre bruchlose Fortsetzung unter der Institutsleitung von Klaus Fittschen (*1936), der außer seinem Hauptforschungsgebiet, dem römischen Porträt, auch die Geschichte des griechischen Porträts in den Blick nahm und dafür konsequent auf das Forschungspotential der Abguss-Sammlung zurückgriff, die er um Hunderte von neuen Abgüssen und um neue Räume erweiterte und (zeitgleich mit seinem Wechsel auf die Stelle des Ersten Direktors des Deutschen Archäologischen Instituts in Athen) 1990 zusammen mit seinen Mitarbeitern erstmals in Form eines gedruckten Verzeichnisses publizierte. Internationale Beachtung fanden und finden bis heute die von Fittschen zusammen mit dem damaligen Institutsrestaurator Edwin Funk in Göttingen realisierten Abguss-Rekonstruktionen antiker Dichter- und Philosophenstatuen.
1990 folgte mit Marianne Bergmann eine weitere prominente Erforscherin des römischen Porträts auf dem Göttinger Lehrstuhl. Ein neuer, in gewisser Weise aber an Thiersch anknüpfender Forschungsschwerpunkt, den sie in Göttingen etablierte, war das hellenistisch-römische Ägypten, wo sie seit 2003 auch Ausgrabungen in der Hafenstadt Schedia südöstlich von Alexandria veranstaltet. Unter Bergmanns Leitung wurde die Abguss-Sammlung weiter konsequent ausgebaut (besonders in den Bereichen Hellenismus und Spätantike) und 2004 in Form des Virtuellen Antikenmuseums VIAMUS im Internet zugänglich gemacht und für die Öffentlichkeit aufbereitet. Intensiviert wurde auch die Ausstellungstätigkeit der Institutssammlungen und die wissenschaftsgeschichtliche Erforschung ihrer Bestände und der Institutsgeschichte generell (Ausstellung über Daktyliotheken 2007; DFG-Projekt zu Heynes Archäologie-Vorlesung).
Seit 2009 wird das Institut von Johannes Bergemann (*1960) geleitet. Einen neuen wissenschaftlichen Schwerpunkt der Institutsarbeit bildet nun die Landschaftsarchäologie, speziell im unteritalisch-sizilischen Raum (Agrigent-Survey, Geländeforschungen in Kamarina).
(Text: Daniel Graepler)