Forschung
Aktuelles Forschungsprojekt
Fürsorgendes Strafen: Zur Verflechtung von Punitivität, Sozialstaatlichkeit und Geschlecht
Ausgehend von der Beobachtung, dass sich Kriminalisierung als Regierungsstrategie seit den 1970er Jahren ausgedehnt und dabei sozialstaatliche Modi der Lösung sozialer Konflikte verdrängt hat, fragt das Projekt nach den hybriden Praktiken, die an der Schnittstelle von strafendem und fürsorgendem Staat entstehen. Mit einer multi-sited ethnography in verschiedenen Institutionen des sogenannten shadow carceral state (Bewährungshilfe, Therapieeinrichtungen oder Arbeit-statt-Strafe-Projekten), die außerhalb des Gefängnisses karzerale Aufgaben wahrnehmen, umkreist das Projekt den staatlich-verwaltenden Umgang mit jenen Subjekten, die der Umbau des Sozialstaats in die Hände der Strafjustiz gespült hat: Wie produziert die gegenwärtige neosoziale Konstellation im Zusammenspiel mit vergeschlechtlichten Vorstellungen von Kriminalität hybride Praktiken des Strafens und Fürsorgens? Wie perpetuieren Legitimationsordnungen der Fürsorge und Responsibilisierung die Ausdehnung karzeraler und überwachender Praktiken? Und wie treten straffällige Personen im Fadenkreuz dieser Praktiken mit dem Staat in Beziehung, um ihre Rechte zu artikulieren und Teilhabe zu praktizieren? Mit dem Fokus auf die vergeschlechtlichten und vergeschlechtlichenden Effekte dieser Praktiken und den den Politiken und Rechten eingelagerten Figuren von Straffälligkeit und Viktimisierung fungiert Geschlecht als analyseleitende Kategorie. Ziel ist eine ethnografisch informierte Analyse des Handelns von und in Institutionen, die gegenwärtige sozialpolitische Phänomene erfasst, in ihrer Kontingenz und ihrer vergeschlechtlichten Dimension verstehbar macht und damit einen Imaginationsraum eröffnet, in dem der Umgang mit Normverstößen anders gedacht werden kann.
Abgeschlossene Projekte
CrimScapes: Navigating Citizenship through European Landscapes of Criminalisation
2020-2024, gefördert durch das NORFACE Network Program Democratic Governance in a Turbulent Age
Das europäische Projekt untersucht mit Hilfe von acht Teilprojekten die gegenwärtige politische, rechtliche und gesellschaftliche Transformation hin zu Kriminalisierung, Versicherheitlichung und Strafe. Es analysiert die zunehmende Intensivierung und Ausdehnung des Strafrechts, von Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung und von gesellschaftlichen Vorstellungen von (Il)Legalität und (Un)Recht. Diese Entwicklung wird beleuchtet als Reaktion auf und Motor von einer Politik der Bedrohung und Unsicherheit, die derzeit in der gesamten europäischen Region zunimmt. Vor dem Hintergrund des Spannungsverhältnisses zwischen demokratischen Prozessen und wachsenden strafrechtlichen und polizeilichen Regulierungen untersucht das Projekt Kriminalisierung und Versicherheitlichung als Herausforderung für den partizipativen Charakter demokratischer Gesellschaften, konkret für die Rechte und Teilhabemöglichkeiten kriminalisierter Gruppen.
Im Rahmen des Projekts habe ich eine mehrmonatige Feldforschung in einer Justizvollzugsanstalt für Frauen durchgeführt, um erstens zu verstehen, wie sich globale punitive Politiken im lokalen Kontext artikulieren und vergeschlechtlicht werden, und zweitens, wie im Verhältnis zwischen Inhaftierten und Strafjustiz Staatlichkeit hergestellt und Teilhabe inhaftierter Frauen verhandelt wird. Für die Forschung habe ich mit dem Berliner Justizvollzugsbeirat kooperiert.
Konsortium
Humboldt Universität zu Berlin, Institut für Europäische Ethnologie (Prof. Beate Binder (PL)), Université Paris Saclay, National Centre for Scientific Research, Centre for Sociological Research on Law and Criminal Justice Institutions (Dr. Mathilde Darley), University of Helsinki, Department of Social Sciences (Dr. Salla Sariola), Jagiellonian University, Institute of Sociology (Dr. Agata Dziuban)
Disentangling European HIV/AIDS Policies: Activism, Citizenship and Health (EUROPACH)
2016-2019, gefördert durch das HERA Joint Research Program Uses of the Past
Am Beispiel der HIV/AIDS-Epidemie untersucht das Projekt, wie die Vergangenheit bei der aktivistischen Verhandlung von Staatsbürgerschaft (citizenship) mobilisiert wird. In dem Maße, wie transnationale Gesundheitsbehörden und -politiken versuchen, einen biomedizinischen Ansatz in lokale Strukturen der Pflege und Prävention zu integrieren, fragt das Projekt, wie die Vergangenheit diese Strukturen geformt hat. Durch die Analyse der Diskurse und Praktiken, die die policy worlds von HIV/AIDS in Deutschland, Polen, der Türkei, dem Vereinigten Königreich und auf europäischer Ebene organisieren, untersucht EUROPACH die unterschiedlichen Artikulationen von citizenship im Sinne von aktivistisch wie (trans)staatlich eingeforderten Ansprüchen, Verantwortlichkeiten, Rechten und Teilhabemöglichkeiten. Ergebnisse des Projekts wurden u.a. in der Ausstellung HIVstories: Living Politics in Berlin, Istanbul und Warschau gezeigt. Zusammen mit dem Forschungsprojekt Keine Rechenschaft für Leidenschaft! sowie dem Arbeitskreis Aidsgeschichte ins Museum haben die Projektmitglieder das European HIV/AIDS-Archive aufgebaut: Eine Sammlung mit über hundert Oral-History-Interviews mit Aidsaktivist:innen aus verschiedenen Regionen Europas.
Im Rahmen des Projekts habe ich die Geschichte und Gegenwart der gefängnisbezogenen HIV/AIDS-Bewegung in (West-)Deutschland rekonstruiert und untersucht, wie Aktivist:innen im Kontext zunehmender Verrechtlichung der Gefängnisgesundheit ihre Forderungen in konkrete Politiken übersetzen. Mittels der Mobilisierung wissenschaftlicher Fakten zu Drogengebrauch und HIV wird ein medikalisierender Diskurs adaptiert, der letztlich drogengebrauchende Inhaftierte zu Patient:innen refiguriert, deren Rechte an die Pflicht zur Normalisierung gebunden sind.
Konsortium
Humboldt Universität zu Berlin, Institut für Europäische Ethnologie (Prof. Beate Binder (PL)), Goldsmith University (Prof. Marsha Rosengarten), Jagiellonian University, Institute of Sociology (Dr. Agata Dziuban), Universität Basel, Department für Geschichte (Prof. Martin Lengwiler, Dr. Peter-Paul Bänziger)
Promotionsprojekt
Fußball und Feminismus. Eine Ethnographie geschlechterpolitischer Interventionen
2013-2017, gefördert von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Caroline von Humboldt-Programm
In meiner Promotion fokussierte ich die Schnittstelle von Fußball und Feminismus und zeigte, wie der Fußball als eine der männlichsten Sportarten in Deutschland geschlechterpolitisch bearbeitet wird. Mein Argument ist, dass gegenwärtig ein Momentum entstanden ist, das die Geschlechterverhältnisse im Fußball problematisierbar macht und heterogene Akteur:innen in einem spannungsreichen Gefüge versammelt. Eine zivilgesellschaftliche Organisation muss, um in diesem komplexen Gefüge als legitime geschlechterpolitische Kraft anerkannt und damit handlungsfähig zu werden, beständig zwischen verschiedenen Organisationsgestalten und politischen Strategien changieren. Basierend auf mehrjähriger kollaborativer Feldforschung bei der Frauenfußballorganisation DISCOVER FOOTBALL habe ich herausgearbeitet, wie diese sowohl mit liberal- als auch mit radikal-feministischen Strategien in die fußballerischen Geschlechterverhältnisse interveniert. Dabei genießen liberal-feministische Ansätze zwar aufgrund der spezifischen Gewordenheit des Momentums deutlich mehr Plausibilität, ihr Potential, die Männlichkeit des Fußballs zu transformieren, bleibt jedoch begrenzt.