Hermann Wellenreuther †
* 23. Juni 1941 in Freiburg i. B.
† 3. April 2021 in Göttingen
Von 1983 bis 2006 bekleidete Hermann Wellenreuther den Lehrstuhl für deutsche, britische, amerikanische und atlantische Geschichte der Frühen Neuzeit an der Georg-August-Universität Göttingen. Mit diesem simplen Satz ist nicht nur ein Berufsleben beschrieben, sondern ein Leben, denn Geschichte war sein Beruf und seine Leidenschaft. Schon mit der Qualifikationsarbeit 1968 bei dem Schnabel-Schüler Erich Angermann, dessen erster Promovend er war, griff er in den atlantischen Raum aus, indem er über das Peace Testimony und die Obrigkeitsdoktrin der Quäker schrieb. 1978 habilitierte er sich, ebenfalls in Köln, zu einem britischen Thema, untersuchte politische Patronage im 18. Jahrhundert am Beispiel des Duke of Bedford.
Als Ordinarius in Göttingen machte er sich zunächst in gewohnter Manier – Seine Neugierde verbindet sich mit der ungewöhnlichen Arbeitskraft eines passionierten Frühaufstehers, heißt es dazu in der Festschrift zu seinem 65. Geburtstag – mit seiner Umgebung historisch vertraut. In einem Projekt zur Göttinger Stadtgeschichte im 18. Jahrhundert veranstaltete Hermann Wellenreuther 1985/86 zwei Oberseminare, in denen engagierte Studierende im Stadtarchiv Göttingen umfängliche Quellenbestände auswerteten. Die Ergebnisse dieses Archivprojekts wurden in dem Sammelband „Studien zur Sozialgeschichte einer Stadt“ 1988 veröffentlicht. Als die Universität Göttingen 1987 ihr 250jähriges Jubiläum feierte, organisierte Hermann Wellenreuther zusammen mit Kolleginnen und Kollegen verschiedener Fakultäten eine große Ausstellung, begleitet von einem Katalog mit ausgewählten Stücken der bedeutenden Göttinger Sammlungen. Im selben Jahr präsentierte er aus Anlass des etwas weniger rühmlichen 150. Jahrestages der Göttinger Sieben eine weitere Ausstellung, die unter anderem im Niedersächsischen Landtag in Hannover gezeigt wurde.
„Bridging the Atlantic“, so der Titel einer Studie (2002), an der er mitwirkte, könnte als Motto über seinen Arbeiten der folgenden Jahrzehnte stehen, für die er – und für sein Lebenswerk – 2003 den Schurman-Preis für amerikanische Geschichte, Politik und Kultur des Vereins zur Förderung der Schurmann-Bibliothek für Amerikanische Geschichte an der Universität Heidelberg erhielt. Umfangreiche Editionen der Papiere des Herrnhuter Missionars David Zeisberger und des Spiritus‘ rector der frühen lutherischen Kirche in Nordamerika Heinrich Melchior Mühlenberg aus Einbeck zeugen ebenso davon wie die intensive Beschäftigung mit dem New Yorker Rebell Jacob Leisler aus der Grafschaft Hanau. Er krönte diese Forschungsarbeit mit einer vierbändigen Geschichte Nordamerikas in atlantischer Perspektive, seinem Opus magnum, dessen letzter Band 2016 erschien.
Da war er 75 Jahre alt, seit zehn Jahren ein Emeritus, dessen Alltag sich prinzipiell von dem eines jüngeren Kollegen nur dadurch unterschied, dass er nicht mehr in die Universität ging. Er nahm weiterhin an großen DFG-Projekten teil, machte ausgedehnte Archivreisen, besuchte Kollegen, die ihm Freunde geworden waren bei seiner Gastprofessur an der Northwestern University in Evanston, Illinois oder bei Forschungsaufenthalten am Max Kade German-American Research Institute an der Penn State University oder an der Huntington Library, San Marino, Kalifornien.
All das bedeutete aber keinesfalls, dass ihm die Lehre nicht wichtig gewesen wäre. Im Gegenteil! Wenn er am Dienstagabend um 22.00 Uhr nach Hause ging, war er vergnügt, nachdem er morgens um 8.30 Uhr die Dienstbesprechung mit uns abgehalten hatte, nachmittags von 16.00-18.00 Uhr sein Proseminar, von 18.00-20.00 Uhr sein Hauptseminar, von 20.00-22.00 Uhr sein Oberseminar, und er freute sich auf seine Vorlesung am Mittwochmorgen um 8.30 Uhr, der die zweistündige Sprechstunde folgte. Er liebte die Diskussion und den Austausch; Universität war für ihn im Kern Kommunikation – mit seinem Resonanzraum Forschung, aber eben auch mit den Studierenden und mit seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, darunter seine Sekretärin Frau Steneberg, die wir viel zu früh († 2020) verabschieden mussten. Er mochte Menschen. Er konnte sie für seine Sache begeistern. Er verlangte dafür Engagement und er war, wieder mit den Worten der Festschrift, a loyal friend, but also a serious critic.
Endlich, wie er gern schrieb, und er schrieb gern, müssen wir darauf hinweisen, wie wichtig es ihm war, den Elfenbeinturm zu verlassen. Hermann Wellenreuther war ein überzeugter Vertreter der Third mission avant la lettre. Er legte großen Wert darauf, dass Forschungsergebnisse auch außerhalb der Universität verständlich vermittelt werden.
Last but not least war er ein großzügiger Gastgeber. Am Ende eines jeden Semesters lud er sein Hauptseminar zu sich nach Hause ein, es gab reichlich Gutes aus Küche und Keller. Es war vergnüglich.
Frauke Geyken