Heft 1/2 2025 Unsichere Urgeschichte
Inhalt
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 76 (2025), 1/2
Seit dem 19. Jahrhundert gelangte die Verwissenschaftlichung und Theoretisierung der Wissensproduktion an den Universitäten und Akademien zum Durchbruch. Darüber ergab sich ein vielschichtiges Spannungsverhältnis, denn zum einen mussten die Wissenschaften dank neuer Erkenntnisse ihre Deutungen immer wieder aufs Neue berichtigen. Zum anderen stellten sowohl die Fragilität der „Fakten“ als auch die Abhängigkeit der Forschung von den soziokulturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen den Anspruch auf „sicheres“ Wissen fortlaufend in Frage.
Ausgehend von diesen Überlegungen widmet sich das vorliegende Themenheft der Popularisierung und Medialisierung sowie den epistemologischen Eigenheiten der Wissensproduktion in der Urgeschichte. Darüber hinaus kommen die kolonialen und intersektionalen Dimensionen einer Fachkultur zur Sprache, der es seit der Entdeckung der „Tiefenzeit“ im 19. Jahrhundert erfolgreich gelungen ist, sowohl in der Politik als auch der Gesellschaft ein breites Interesse an paläontologischer und prähistorischer Forschung wachzuhalten. Die thematisch weit gespreizten Beiträge arbeiten diese Beziehungsgeflechte sorgfältig heraus und zeigen, wie von den 1830er Jahren bis zur Gegenwart Vorstellungen von der Urgeschichte konstruiert wurden und welche Verifikationsstrategien, Erzählmuster und Methoden dabei zum Einsatz kamen.
Bereits der einleitende Aufsatz von Johannes Großmann zur (Re)Konstruktion der Saurier im 19. und 20. Jahrhundert verdeutlicht eindrucksvoll, dass bei all diesen Versuchen paläontologische Forschung, künstlerische Imagination und populärkulturelle Aneignung eng ineinandergriffen. Jedenfalls beließ der fragmentarische Charakter der fossilen Überlieferung große Spielräume für Spekulation und Kreativität. Gleichermaßen hebt der nachfolgende Beitrag von Patrick Stoffel darauf ab, dass im 19. Jahrhundert sämtliche Versuche, ein „geologisches Bild“ vom Urmenschen zu entwerfen, keineswegs allein auf wissenschaftlichen Methoden (Ausgraben, Ordnen, Vergleichen und Rekonstruieren) aufruhten, sondern lebensweltliche Erfahrungen, weltanschauliche Überzeugungen und nicht-wissenschaftliche Normen und Konventionen das Ergebnis mitbestimmten.
Sodann weist Mira Shah Verflechtungen eines ganz anderen Typs in ihrem Aufsatz über „Imaginationen der Pfahlbau-Steinzeit“ nach. Darüber wird deutlich, wie Mitte des 19. Jahrhunderts über den Vergleich von lokalen Funden in der Schweiz mit der Lebensweise zeitgenössischer Menschen in Übersee die Steinzeit europäischer Pfahlbauten letztlich „erfunden“ wurde. Der dann folgende Aufsatz von Martin Deuerlein zum „Streit um den Prehistoric Overkill“ vollzieht einen großen zeitlichen Sprung zu einer Kontroverse seit den 1960er Jahren. Ausgelöst wurde sie von der These, wonach die ersten Einwanderer:innen vor ca. 11 000 Jahren innerhalb kurzer Zeit die Großsäugetiere in Nordamerika ausgelöscht hätten. Die Behauptung rief nicht nur den entschiedenen Widerstand von Native Americans hervor, sondern mündete in eine grundsätzliche Debatte um die „Dekolonisierung“ prähistorischen Wissens.
Das Themenheft schließt mit einem quellenkritischen Grundlagenbeitrag von Brigitte Röder. Darin hebt sie darauf ab, dass die Materialität von Quellen zur Urgeschichte den Funden keineswegs die ihnen oft zugeschriebene Eindeutigkeit verleihe. Tatsächlich seien archäologische Quellen vieldeutig und müssten über Analogieschlüsse interpretiert werden, was wiederum auf dem Erfahrungshintergrund der Forschenden zu voneinander abweichenden Ergebnissen führe. In dieser Hinsicht, so darf man abschließend ergänzen, ist die Urgeschichte – so wie viele andere historische Forschungszweige – ein Teil der Zeitgeschichte.
Christoph Cornelißen
- ABSTRACTS (S. 2)
- EDITORIAL (S. 4)
- BEITRÄGE
Martin Deuerlein/Johannes Großmann/Mira Shah
Unsichere Urgeschichte
Fragiles Wissen und die Hervorbringung der ,Tiefenzeitʻ (S. 5)
Johannes Großmann
Von Monstern und Menschen
Die (Re)Konstruktion der Saurier im 19. und 20. Jahrhundert (S. 11)
Patrick Stoffel
Ein ,geologisches Bildʹ vom Urmenschen
Franz Unger in Zusammenarbeit mit Joseph Kuwasseg und Joseph Selleny, 1845–1868 (S. 27)
Mira Shah
Ambivalente Analogien
Imaginationen der Pfahlbau-Steinzeit zwischen der Schweiz und Neuguinea (S. 42)
Martin Deuerlein
Legitimation aus der ,Tiefenzeitʹ
Nordamerikas Indigene und der Streit um den Prehistoric Overkill S. 56)
Brigitte Röder
Harte Steine – harte Fakten?
Urgeschichtliche Quellen als Projektionsfläche (S. 71)
Michael Kitzing
Zum Scheitern verurteilt?
Das „Rumpfparlament“ in Stuttgart vor 175 Jahren
Überlegungen für die Ausgestaltung einer Unterrichtseinheit mit Schülern eines Leistungskurses Geschichte Klasse 11 (S. 80)
- INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Alessandra Sorbello Staub
Jenseits der Internetquellen
Vor- und Frühgeschichte im digitalen Zeitalter (S. 93)
- LITERATURBERICHT
Alexander Schunka
Unterwegs im konfessionellen Zeitalter (S. 96)
- NACHRICHTEN (S. 115)
- AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 120)
- ABSTRACTS
Martin Deuerlein/Johannes Großmann/ Mira Shah
Unsichere Urgeschichte
Fragiles Wissen und die Hervorbringung der ,Tiefenzeitʻ
GWU 76, 2025, H. 1/2, S. 5 – 10
Mit der Entdeckung der ‚Tiefenzeit‘ wuchs seit dem 19. Jahrhundert der gesellschaftliche und politische Stellenwert paläontologischer und prähistorischer Forschung. Gleichzeitig war und ist diese angesichts der Fragilität ihrer ‚Fakten‘ und Interpretationen stets von sozikulturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen beeinflusst. Das Schwerpunktheft analysiert diese Zusammenhänge in interdisziplinärer Perspektive und blickt insbesondere auf die kolonialen und intersektionalen Dimensionen, die Medialisierung und Popularisierung sowie die epistemologischen Eigenheiten urgeschichtlicher Wissensproduktion.
Johannes Goßmann
Von Monstern und Menschen
Die (Re)Konstruktion der Saurier im 19. und 20. Jahrhundert
GWU 76, 2025, H. 1/2, S. 11 – 26
Die Entdeckung und Erforschung der Saurier markiert eine wichtige Etappe der Wissenschafts- und Wissensgeschichte. Sie trug wesentlich zur Durchsetzung eines auf der Evolutionslehre basierenden Weltbilds bei, wobei bis in die Gegenwart hinein darwinistische mit religiösen Deutungen koexistieren. Angesichts der fragmentarischen fossilen Überlieferung griffen und greifen paläontologische Forschung, künstlerische Imagination und populärkulturelle Aneignung bei der (Re)Konstruktion der Saurier und ihrer Lebensweise eng ineinander. Diese war und bleibt deshalb unauflöslich mit den jeweiligen kulturellen, sozioökonomischen und politischen Rahmenbedingungen verschränkt.
Patrick Stoffel
Ein ‚geologisches Bild‘ vom Urmenschen
Franz Unger in Zusammenarbeit mit Joseph Kuwasseg und Joseph Selleny, 1845–1868
GWU 76, 2025, H. 1/2, S. 27 – 41
Der Naturforscher Franz Unger suchte in Zusammenarbeit mit den Landschaftsmalern Joseph Kuwasseg und Joseph Selleny in den Jahren 1845 bis 1868 in immer wieder neuen Anläufen, der fragilen Quellenlage zum Trotz ein ,geologisches Bild‘ vom Urmenschen zu entwerfen. Dieser Beitrag zeigt, wie der Urmensch dabei auf der geologischen Zeitskala immer tiefer verortet wird, dass es zur Hervorbringung der Urgeschichte neben dem Ausgraben, Ordnen, Vergleichen und Rekonstruieren auch des Reisens und Malens bedarf, und dass die Leerstellen, welche die für die Öffentlichkeit entworfenen Bilder noch aufweisen, in Bildern zum privaten Gebrauch bereits gefüllt werden.
Mira Shah
Ambivalente Analogien
Imaginationen der Pfahlbau-Steinzeit zwischen der Schweiz und Neuguinea
GWU 76, 2025, H. 1/2, S. 42 – 55
Der Beitrag untersucht die Ambivalenz der Analogiebildung in der prähistorischen Forschung. Er rekonstruiert, wie Mitte des 19. Jahrhunderts die Steinzeit europäischer Pfahlbauten durch Vergleiche von lokalen Funden mit der Lebensweise zeitgenössischer überseeischen Menschen ‚erfunden‘ wird: Gezeigt wird, wie aus fragiler Faktenlage eine exotisierte Imagination von Steinzeit hergestellt wurde, die sich, abgesichert durch die wissenschaftliche Analogiebildung, unter anderem im Rahmen eines neuen schweizerisches Nationalbewusstseins popularisieren ließ. Zugleich aber wurde diese Imagination zur chronopolitischen Kategorie von entwicklungs- und zivilisationstheoretischer Differenz.
Martin Deuerlein
Legitimation aus der ,Tiefenzeit‘.
Nordamerikas Indigene und der Streit um den Prehistoric Overkill
GWU 76, 2025, H. 1/2, S. 56 – 70
Der Beitrag untersucht die Debatte um die Ursachen des Aussterbens der pleistozänen Megafauna am Ende der letzten Kaltzeit, die besonders für Nordamerika kontrovers geführt wird. Er zeigt daran die politische Aufladung von Wissen über die Urgeschichte. Die Ende der 1960er Jahre aufgestellte These vom Prehistoric Overkill, nach der die ersten Einwanderer:innen vor ca. 11 000 Jahren innerhalb kurzer Zeit die dortigen Großsäugetiere ausgelöscht hätten, stieß vor allem bei Native Americans auf Kritik. Denn sie gefährdete die für ihr Selbstbild und ihre politischen Anliegen wichtige Annahme, ihre Vorfahr:innen hätten schon immer im Einklang mit der Natur gelebt. Die Historisierung der Debatte um den Overkill wirft damit die Frage nach einer ‚Dekolonisierung‘ prähistorischen Wissens auf.
Brigitte Röder
Harte Steine – harte Fakten?
Urgeschichtliche Quellen als Projektionsfläche
GWU 76, 2025, H. 1/2, S. 71 – 79
Die Quellen zur Urgeschichte bestehen aus Überresten der materiellen Kultur. Ihre Materialität scheint Eindeutigkeit zu verleihen. So heißt es häufig ,Funde erzählen Geschichte‘. Tatsächlich sind archäologische Quellen aber vieldeutig und müssen über Analogieschlüsse interpretiert werden. Und diese schöpfen sich aus dem Erfahrungshintergrund der Forschenden. Damit die Urgeschichte nicht zur Projektionsfläche für aktuelle Konzepte wird, braucht es selbstreflexive Forschung: Je selbstreflexiver die Wissenskonstruktion ist, desto valider sind die Geschichten, die mit den Quellen erzählt werden.
Michael Kitzing
Zum Scheitern verurteilt? Das „Rumpfparlament“ in Stuttgart vor 175 Jahren
Überlegungen für die Ausgestaltung einer Unterrichtseinheit mit Schülern eines Leistungskurses Geschichte Klasse 11
GWU 76, 2025, H. 1/2, S. 80 – 92
Die hier vorgestellte Unterrichtseinheit möchte aus Anlass 175 Jahre „Sprengung des Rumpfparlaments“ Schülern an einem regionalhistorischen Beispiel zentrale Stationen am Ende der Revolution von 1848/1849 aufzeigen. Nach einem Einleitungsvortrag soll eine gemeinsame Lektüre und Interpretation von Quellen zum Selbstverständnis des Rumpfparlamentes und zu den Konflikten, die zu dessen Ende führten, erfolgen. Im finalen Schritt werden die Schüler dazu motiviert, selbst für eine Tageszeitung einen knappen Artikel über die „Sprengung des Rumpfparlaments“ zu verfassen sowie über die Handlungsspielräume von „Rumpfparlament“ und württembergischen Märzministerium zu reflektieren.