Area 1: Pietas und Paideia. Religiöse Traditionen und intellektuelle Kulturen in der Welt des Römischen Reiches
„Bildung und Religion“ in historischer Perspektive lautet die übergreifende Thematik des Zentrums „EDRIS“. Nachwuchsgruppe 1 beleuchtet als Ausgangspunkt für diese Thematik das Gebiet des römischen Reiches mit seiner religiösen Vielfalt, in der Zeit vom ersten bis zum vierten Jahrhundert. Sie fragt nach den Wechselbeziehungen zwischen religiösen Traditionen einerseits und Bildungskonzepten sowie -methoden andererseits.Die Gruppe fokussiert speziell das Thema „Schulen im christlichen, jüdischen und paganen (=nichtjüdischen und nichtchristlichen) Bereich während des 2./3. Jahrhunderts“.
Schulen sind hervorgehobene Orte der Bildung, und an ihnen lässt sich im Detail beobachten, wie die unterschiedlichen religiösen Traditionen die Bildungsinhalte und deren Vermittlung prägen. Auf der anderen Seite werden die Glaubensvorstellungen dadurch, dass sie an Schulen thematisiert werden, einem Reflexionsprozess unterzogen. Schulen – hier sind speziell höhere Schulen im Blick; die Frage nach den möglichen Definition von „Schule“ ist eigens zu thematisieren – spielen eine wesentliche Rolle innerhalb der religiösen Identitätsbildungen, die zu dieser Zeit im römischen Reich zu verzeichnen sind. Das rabbinische Judentum vollzieht mit seiner Abkehr von der hellenistischen Kultur und der griechischen Sprache eine dramatische Wendung.
Gerade das Erbe des hellenistischen Judentums wird von den frühen Christen übernommen, deren Glaubensgemeinschaft im Laufe des 2. Jahrhunderts Profil gewinnt. Auf der Suche nach Identität sind auch die paganen Philosophenschulen, und die Eliten des römischen Reiches greifen immer wieder auf die traditionellen Götterkulte zurück, um den politischen Zusammenhalt des Imperiums zu stärken.
Die Rolle, welche von Schulen in diesem Zusammenhang wahrgenommen wurde, ist bisher nicht hinreichend analysiert worden. Vor allem steht eine bereichsübergreifende Untersuchung noch aus, welche nach Verbindungs- und Grenzlinien zwischen den Schulen mit ihren unterschiedlichen religiösen Prägungen fragt. mehr...
Mögliche Frageperspektiven sind:
Was erfahren wir über die unterschiedlichen Schulen? Welche Einblicke in das jeweilige Schulleben gestatten die Quellen? Welche Bedeutung haben die Schulen für die Identitätsbildung der verschiedenen religiösen Gruppierungen? Wie wird an ihnen Identität konstituiert? Welche Rolle spielen Abgrenzung zu und Anknüpfung an „den Anderen“ in diesem Zusammenhang? Welche Stellung haben die Schulen innerhalb der jeweiligen religiösen Gruppierung? Wie verhalten sich pagane, jüdische und christliche Ausprägungen von „Schule“ zueinander? Welche Parallelen, welche gegenseitigen Beeinflussungen und Abstoßungen lassen sich beobachten? Sind Übergangsformen zu verzeichnen? Welche Rolle spielt die antike Bildung bzw. paideia in den verschiedenen Bereichen? Inwieweit beeinflussen jüdische und christliche Schulen sich gegenseitig? Sind Rückwirkungen auf Schulen im paganen Raum wahrnehmbar? Bringen die unterschiedlichen religiösen Prägungen spezifische schulische Gestalten mit sich?
Wie vielversprechend eine solche Untersuchung ist, lässt sich illustrieren am Beispiel der „Schule Justins“. Justin war um die Mitte des zweiten Jahrhunderts einer der herausragenden christlichen Denker. Er trat im Pallium, dem traditionellen Philosophenmantel, auf. Die Belege dafür, dass er in Rom eine Schule unterhielt, sind recht spärlich. Dieser Befund steht exemplarisch für die begrenzte Quellenlage zum Thema christlicher Schulen – als Quellen finden in erster Linie Textzeugnisse, daneben aber freilich auch alle anderen verwertbaren Quellengattungen (Monumente, Bilder, andere materielle Hinterlassenschaften) Berücksichtigung. Diese Quellenlage sollte aber Anreiz dafür sein, den vorhandenen Zeugnissen näher auf den Grund zu gehen. Dank eines Hinweises im Bericht zum Martyrium Justins wissen wir zumindest mit ziemlicher Sicherheit, dass es diese Schule in Rom gegeben hat. Sofern man Justins erhaltene Schriften – zwei Apologien und den „Dialog mit dem Juden Trypho“ – in den Schulkontext einzeichnet, kann man aus diesen Werken auf intensive Interaktionen zwischen Christen, Juden und der paganen Bevölkerung schließen: In den Apologien verteidigt Justin die Christen und ihren Glauben gegenüber dem römischen Imperator und gebildeten Nichtchristen. Dabei greift er in großem Umfang auf die antike pagane Bildung zurück, in welcher er selber aufgewachsen ist. Freilich nutzt er dieses Bildungsgut vor dem Hintergrund seines christlichen Glaubens, in kritischer Weise: Götterkult und Lebenspraxis der Nichtchristen dienen ihm gerade als Abgrenzungsfolie. Anknüpfung wie Abgrenzung lassen sich in ähnlicher Weise im „Dialog mit dem Juden Trypho“ beobachten: Justin beruft sich auf die biblische Tradition, von der auch Trypho ausgeht, legt die Schrift aber anders aus: Für ihn ist Jesus Christus der von den Propheten verheißene Messias.
Justin steht beispielhaft für die religiöse Identitätssuche im Schulzusammenhang, die sich zwischen den Polen Anknüpfung und Abgrenzung bewegt. Die Forschungsgruppe beleuchtet über Justin hinaus nicht nur das Gesamtspektrum „Christen und Schule“ im 2./3. Jahrhundert. Sie nimmt auch die komplementären Phänomene im jüdischen und paganen Bereich in den Blick. Das so entstehende Gesamttableau wird mehrperspektivische, vielfältige Einblicke in die Entwicklung der einzelnen Schulen und in ihre Wechselbeziehungen ermöglichen. Entsprechend der bereichsübergreifenden Perspektive ist die Gruppe fächerübergreifend zusammengesetzt mit Forschern aus den Bereichen der Kirchengeschichte, der Judaistik, der Alten Geschichte und der Altphilologie.