Editorial
Die Krise, die seit dem Zusammenbruch der Lehman Brothers Bank das Finanzsystem der Welt erfasst hat, bereitet vielen Menschen erhebliche Verständnisschwierigkeiten. Sie fragen sich, ob es sich dabei um das Resultat der Aktivitäten unmoralischer Bank- und Hedgefondsmanager, um das Ergebnis politischer Fehlleistungen oder um eine Systemnotwendigkeit des kapitalistischen Systems handelt. Da liegt es nahe, einen Blick in die neuere Wirtschaftsgeschichte zu werfen und nach vergleichbaren Konstellationen Ausschau zu halten, die eine solide Basis für eine tiefergehende Analyse abgeben. Man wird sicher nicht behaupten können, dass die öffentliche Diskussion hierzulande besonders stark historisch orientiert gewesen sei. Viel größeres Gewicht wurde insgesamt auf die verhängnisvollen Fehlleistungen in der Einschätzung des amerikanischen Immobilienmarktes als auf die Suche nach historischen Konstellationen vergleichbarer Qualität gelegt. Das vorliegende Heft unternimmt den umso eindrucksvolleren Versuch, das Erklärungspotenzial der neueren Wirtschaftsgeschichte für ein tiefes Verständnis der momentanen Krise heranzuziehen. Dies scheint nicht zuletzt deshalb wichtig zu sein, weil die Analysen von Seiten der professionellen Volkswirtschaftslehre viel zu selten eine wirkliche historische Fundierung aufweisen, sicher auch eine Konsequenz der neueren Ausrichtung dieser Disziplin, die ihre historische Perspektive weitgehend verloren hat. Der einleitende Aufsatz des Frankfurter Wirtschaftshistorikers Werner Plumpe unternimmt zunächst den Versuch einer weiten Einordnung der gegenwärtigen Krise in die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts beobachtbaren Wirtschaftskrisen und kommt zu dem Ergebnis, dass Wirtschaftskrisen Teil der ständigen Veränderung des wirtschaftlichen Systems sind und insofern geradezu die Normalität dieses Systems bilden. Ein solches Verständnis der gegenwärtigen Krise scheint umso notwendiger, als der genaue Blick auf die Bankenkrise vom Juli 1931, den Johannes Bähr unternimmt, zeigen kann, welch traumatische Erfahrung mit dieser Krise verbunden war, die die deutsche Wahrnehmung von Finanzkrisen erheblich geprägt hat. Trotz aller Unterschiede zwischen den Krisen von 1931 und 2008/09 ergibt sich eine verblüffende Parallelität in den staatlichen Reaktionen auf den Zusammenbruch systemrelevanter Banken. Dieser Blick auf den Umgang mit der Krise wird vertieft durch den Beitrag von Jan-Ottmar Hesse, der die wirtschaftspolitischen Maßnahmen Deutschlands und der USA Ende in den 30er Jahren und die unterschiedlichen Strategien des New Deal und der nationalsozialistischen Rüstungspolitik miteinander vergleicht. Die genaue Analyse eines einzelnen Großunternehmens - in diesem Fall des schwedischen Zündholzmagnaten Ivar Kreuger - zeigt an einem speziellen Fall die Problematik überdimensionierter Finanzkonzerne, die sich einzelstaatlicher Kontrolle weitgehend entziehen und damit das Gesamtsystem direkt gefährden können. Der abschließende Beitrag von Gerhard Henke-Bockschatz analysiert die Darstellung der Weltwirtschaftskrise in unseren Schulgeschichtsbüchern und bestätigt in gewisser Weise die eingangs von Plumpe geäßerte Vermutung einer systemischen Bedingtheit von Krisen im modernen Wirtschaftssystem, während die Schulbücher den Eindruck individuellen und damit korrigierbaren Fehlverhaltens erwecken, das eigentlich hätte vermieden werden müssen. Das Erkenntnispotenzial, dass die moderne Wirtschaftsgeschichte der Krisen inzwischen bereithält, wird damit nicht hinreichend genutzt.
Winfried Schulze