Mit der Hand auf den Hund kommen

Von Katrin Wellnitz

Für die Jubiläumsausgabe der Hundejahre hat Günter Grass sich seinen zweiten großen Roman von 1963 noch einmal vorgenommen und retrospektiv die für ihn wesentlichen Momente zeichnerisch eingefangen. Zwar hatte er schon parallel zum Entstehungsprozess des Romans einzelne Zeichnungen entworfen, die 136 Radierungen der Jubiläumsausgabe erzählen die Geschichte aber noch einmal aus ganz neuer Perspektive nach, wobei die bildhafte Sprache der Hundejahre hier tatsächlich in Bilder übersetzt ist. Diese unterstreichen vor allem den grotesken Grundcharakter des Romans: Sowohl in den aufdringlichen Stillleben und Landschaftsentwürfen als auch in den mit karnevalesken Märchen-, Mythen- und Sagenfiguren belebten Wimmelbildern wird die mal schöne, mal kaum erträgliche Absurdität des Lebens ausgestellt.

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Abb. 1: Radierung aus der Sammlung des Günter Grass-Hauses Lübeck. Dieses Motiv ist als Illustration in die Jubiläumsausgabe zu den Hundejahren eingegangen. Siehe Band 1, S. 68f.
© Günter und Ute Grass Stiftung


Günter Grass hat seine Bücher von Anfang an selbst illustriert und dabei Titelbilder mit Kultstatus entworfen. Der Umschlag zur ersten Hundejahre-Ausgabe von 1963 zeigt eine getuschte schwarze Hand, die im Schattenspiel einen Hundekopf darstellen will; ein sechster, rot angedeuteter Finger dient dem Hund als Zunge. Schon auf dem Umschlag wird so ein poetologisches Programm ins Bild gesetzt, das mit illusionistischen Erzählmomenten bricht und das Spiel des Erzählens selbst zum Thema macht: Im Schattenspiel vermag eine Hand zum Hund zu werden. Auch in den Romantext finden sich vielfach textuelle Schattenbilder integriert; darin werfen Gegenstände mit der Sonne wandernde Schatten oder treten Figuren als Schatten auf. Einer der schönsten ‚Schattenmomente‘ dieses Romans bringt den Protagonisten Eddi Amsel mit dem durch die Hundejahre geisternden Blechtrommel-Helden Oskar Matzerath zusammen:

[W]ir überraschten Eddi Amsel und den Sohn des Kolonialwarenhändlers im Schneegestöber auf der Fröbelwiese. Wir hockten hinter einem Rummelwagen, der auf der Fröbelwiese überwinterte. Amsel und der Gnom hoben sich als Schattenbilder vom Gestöber ab. Verschiedener als diese Schatten konnten keine anderen Schatten sein. Der Gnomschatten hielt seine Schattentrommel in den Schneefall. Der Amselschatten beugte sich. Beide Schatten hielten die Ohren an die Trommel, als lauschten sie dem Geräusch: Dezemberschnee auf weißlackiertem Blech. Weil wir nie etwas so Lautloses gesehen hatten, blieben auch wir still, mit frostroten Ohren: Aber wir hörten nur den Schnee, das Blech hörten wir nicht. 1



Auf dem Umschlag der ersten Hundejahre-Ausgabe ist schließlich nicht der Hund ausgestellt – und übrigens auch nicht die Hand, die mit ihrem roten sechsten Finger aus der Rolle fällt –, sondern vielmehr der Spielvorgang selbst; Dargestelltes und Darstellendes fallen dabei zusammen.

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Abb. 2: Umschlag zur Hundejahre-Ausgabe von 1963,
erschienen im Verlag Luchterhand
© Steidl Verlag + Günter und Ute Grass Stiftung


Das Motiv der zum Schattenspiel bereiten Hand hat Grass in seine Jubiläumsausgabe übernommen und es dort vielfältig abgewandelt, es mit seinem verspielten wie abstrahierenden Charakter zu einem wesentlichen Leitmotiv erhoben. Gleich auf dem Einband zum „Ersten Buch“ ist die spielende Hand sichtbar, deutet linkshändig den Hund über einem weiten, leeren Feld an; zudem rahmt sie in Variationen als einleitendes und/oder ausleitendes Motiv die einzelnen Bücher.

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Abb. 3: Einband zum „Ersten Buch“ der Hundejahre-Ausgabe von 2013
© Steidl Verlag + Günter und Ute Grass Stiftung


Im Göttinger Grass-Archiv finden sich Arbeitskopien aus dem Entstehungsprozess der Jubiläumsausgabe, die verschiedene Vorschläge für Einbandbilder zeigen. Alle erwogenen Motive sind mit einem gelben Textmarker eingerahmt und die ausgewählten Bilder mit einem blauen Kreuz markiert worden.

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Abb. 4: Motivauswahl für das „Zweite Buch“ der Hundejahre-Ausgabe von 2013
Signatur Cod. Ms. Grass-Archiv Hj2013 B 1:1
© Steidl Verlag + Günter und Ute Grass Stiftung


Ein Entwurf fällt dabei besonders ins Auge. Er ist zwar eingerahmt, aber schließlich nicht als Einbandmotiv ausgewählt worden; im Druck findet sich diese Radierung lediglich als Illustration im „Zweiten Buch“ wieder.

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Abb. 5: Mögliche Motivauswahl für das „Zweite Buch“ der Hundejahre-Ausgabe von 2013
Signatur Cod. Ms. Grass-Archiv Hj2013 B 1:1.
© Steidl Verlag + Günter und Ute Grass Stiftung


Hier ist eine weitere Variation der spielerisch den Hund mimenden Hand zu sehen, dieses Mal aber spannungsreich vor einen realistisch gezeichneten Hund gesetzt. Die illusionistische und dabei künstlerische Beziehung von Dargestelltem und Darstellendem, von Hund und Hand, wird konkretisiert, indem beide Motive zusammen ein aufgeklärtes, den spielerischen Moment reflektierendes Bild ergeben. Die Hand ist zwar nach wie vor im Spiel begriffen, vor dem Hintergrund des Hundes bleibt sie – mittlerweile fünffingrig – nun aber eine Hand, und der ›Zauber‹ des Schattenspiels wird durch die bildhaft erzwungene Auflösung der Illusion aufgehoben. So wirkt das Bild wie eine aufgeklärte Revision des Titelbildes von 1963, denn der wundersame sechste Finger hat hier die Hand verlassen und ist ganz Hund geworden.

Auf dem „Ersten Buch“ wird anstelle dieses Bildes schließlich das Schattenspiel der über dem Feld schwebenden Hand angedeutet. Warum zögerte Grass, Hund und Hand in einem Einbandbild vereint in den Vordergrund zu rücken und entschied sich stattdessen lieber für die auf den Hund gekommene Hand auf dem ersten und den phantastisch über der Stadtlandschaft schwebenden Hund auf dem zweiten Band? Mit ersterem Motiv knüpft er an seinen ›frechen‹ Entwurf von 1963 an, wobei sich die Hand mit ihren fünf Fingern nunmehr der Realität verpflichtet. Der in das Titelbild von 1963 gespiegelte Hang zum phantastischen Realismus scheint in der Retrospektive überlagert von einem kunstreflexiven Realismus des Spiels. Dennoch braucht die Hand den hintergründigen Hund nicht, um das künstlerische Spiel begreifbar und anschaulich zu gestalten. Wer sich nämlich mit Freude auf die Textbilder der Hundejahre einlassen kann, der sieht am Ende doch einen spielenden Hund über weitem Feld.


1 Günter Grass: Hundejahre in drei Büchern. Zweites Buch: Liebesbriefe. Mit Illustrationen des Autors. Göttingen 2014, S. 105.