Wintersemester 1910/11

Im Wintersemester 1910/1911 immatrikulierten sich 2023 Männer und 192 Frauen. Damit machten weibliche Studierende noch nicht ganz 10% aus, doch diese Relation gewinnt an Bedeutung, da sich in Preußen erst seit 1908 Frauen an den Universitäten einschreiben durften. Schon lange konnten nicht mehr alle Bürger innerhalb der alten Wallanlagen wohnen, sodass neue Wohnviertel östlich bis zum Hainberg, nördlich Richtung Weende und südlich Richtung Stegemühle entstanden.

Wer neu oder erneut an die Universität kam, musste sich in die Matrikelliste eintragen – im Wintersemester waren dies 672 Studierende. Alle weiteren gut 1500 Studierenden setzten ihr Studium aus dem Sommersemester 1910 fort. Die Mitarbeiter des Kurators erstellten dann ein Verzeichnis aller Studierenden der Universität, das gemeinsam mit dem Personalverzeichnis gedruckt wurde. Damit steht eine große Zahl von Informationen zur Verfügung, die vielfältige Untersuchungen erlauben, umso mehr als sie sich durch Angaben aus Akten des Universitätsarchivs ergänzen lassen. Umfangreiche soziale Untersuchungen sind besonders mit Hilfe der Matrikelliste möglich.


Fritz Bode schilderte seine Immatrikulation wie folgt:
“Der Akt der Immatrikulation ging bei der großen Zahl der Beteiligten etwas summarisch vor sich. Ich mußte seiner Magnificenz, dem Herrn Prorektor, durch Handschlag geloben, den akademischen Gesetzen in allen Stücken gehorsam sein zu wollen.” (Bode 1926, S. 6f.)
Bode erwähnte allerdings nicht die Immatrikulationsgebühr, deren Höhe im sogenannten Manuale professorum Gottingensium, einer Art Handbuch der Verwaltung der Universität, genau geregelt war: 18 Mark mussten von „einem neu angekommenen Studierenden [gezahlt werden], welcher noch keine Universität oder noch keine solche besuchte, welche, zur Erteilung akademischer Würden berechtigt, mit Göttingen im Reciprocitätsverhältnisse steht.“ Neuankömmlinge, die bereits an einer der oben spezifizierten Universitäten studiert haben, hatten 12 Mark zu zahlen. Hatte ein Studierender bereits in Göttingen studiert und wollte die alte Matrikel erneuern, so fielen keine Kosten an. Dasselbe galt für bereits immatrikulierte Studierende und diejenigen, deren Väter Professoren an der Georg-August-Universität Göttingen waren (vgl. MPG 1902, S. 7–8). Folglich hatte der Großteil der Studierenden des Wintersemesters 1910/1911 bereits zuvor die fällige Gebühr entrichtet, genauer: Von insgesamt 2215 immatrikulierten Studierenden mussten 1711 Studierende keine Gebühr entrichten. Diese Summe ergibt sich aus 1542 Studierenden, die bereits immatrikuliert waren und den 167 Studierenden, die zum Wintersemester an die Universität Göttingen zurückkehrten, also ihre Einschreibung erneuern ließen. Nur zwei von den 1711 Studierenden waren Kinder von Professoren. 307 Studierende mussten 12 Mark zahlen, weil sie bereits anderswo studiert hatten und nun nach Göttingen wechselten. Schließlich nahmen zum Wintersemester 197 Studierende ihr Studium in Göttingen auf – sie mussten 18 Mark zahlen und bildeten damit eine Minderheit von weniger als 10% der Gesamtstudierendenschaft. (Rayan Förster)




Weder die soziale Zusammensetzung noch die Herkunft der Studierenden des Wintersemesters lassen sich für das Wintersemester 1910/1911 vollständig ermitteln, weil nur von den 672 Studierenden Angaben bekannt sind, die aber Rückschlüsse auf die Eltern und besonders auf den Beruf des Vaters erlauben. Von diesen Vätern hatten mindestens 140 studiert, wobei die Bandbreite von medizinischen und philosophischen über juristische hin zu theologischen Berufen reichte, denn genannt wurden beispielsweise 32 Ärzte, 59 Lehrer, 9 Anwälte und 40 Pastoren. Allerdings waren viele Väter in Berufen tätig, die nicht notwendigerweise ein Studium voraussetzen – mit 79 Erwähnungen kam besonders oft der Beruf “Kaufmann” vor. Außerdem wurden 23 Meister unterschiedlicher handwerklicher Berufe und 36 Landwirte genannt. Immerhin 19 Studierende gaben als Beruf des Vaters “Rentner” an, was sich nicht auf die gerade in Deutschland eingeführte Rentenversicherung bezog, sondern hieß, dass die Familien von den Einnahmen mehr oder weniger großer und verpachteter Ländereien lebten. Schließlich gab es 111 Studierende, deren Väter verstorben waren, was in der Matrikelliste durch ein Kreuz kenntlich gemacht wurde, doch in lediglich sechs Fällen trugen die Studierenden einen Vormund ein, weil sie vermutlich noch minderjährig waren.
In der Tendenz gab es Zusammenhänge zwischen dem Beruf des Vaters und dem von seinem Sohn gewählten Studiengang: Von denjenigen Vätern, deren Söhne Jura an der Universität Göttingen im Wintersemester 1910/11 studierten, waren 15 im Bereich der Rechtspflege tätig, beispielsweise als Syndikus des Hamburger Senats, als Landgerichtspräsident von Dortmund, auch als Notare und Oberstaatsanwälte. Andere Väter waren hingegen Geistliche oder hohe Offiziere im Heer. Auch diverse Studierende der Theologie folgten ihren Vätern: Von den 31 erfassten Theologiestudenten arbeiteten 13 Väter im Umfeld der Kirche, beispielsweise als Pastor oder Superintendent. Weitere Väter waren Lehrer oder Hochschullehrer. Auch beim Studiengang Medizin gab es einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Beruf des Vaters und der Wahl des Studiengangs: Von den 55 erfassten und im Wintersemester 1910/1911 neu immatrikulierten Studenten der Medizin arbeiteten neun Väter als Ärzte und fünf als Sanitätsräte. Zugleich waren viele Väter im öffentlichen Dienst tätig. Noch evidenter waren die Zusammenhänge beim Studiengang Landwirtschaft, weil bei fast der Hälfte der erfassten Studierenden der jeweilige Vater Landwirt oder Hof- bzw. Grundbesitzer war.
Weniger direkte Zusammenhänge gab es bei den Studierenden der Philosophischen Fakultät: Die Studiengänge Deutsche Philologie und Neuere Sprachen waren besonders beliebt bei den Studierenden, deren Eltern Lehrer oder Professoren waren. Allerdings übten die Väter insgesamt eine Vielzahl von Berufen ohne fachliche Korrelation aus – Kaufmänner, Offiziere, Pastoren, Gastwirte und Bäckermeister. Unter den 17 erfassten Studierenden der Geschichte arbeiteten sieben Väter als Lehrer (3) oder Pastoren (4).
Völlig anders waren die Korrelationen bei der erst jüngst populär gewordenen Mathematik. Von den 102 erfassten Studierenden gaben lediglich sechs an, dass ihr Vater Rechnungsrat, Lehrer, Professor oder Arzt war. Sechzehn Väter arbeiteten als Kaufmann. Insgesamt aber übte die übergroße Mehrzahl der Väter der erfassten Studierenden keinen Beruf aus, bei dem ein direkter Zusammenhang zur Mathematik evident war - und dasselbe galt für die Studierenden der Chemie. Mit anderen Worten: Die naturwissenschaftlichen Studiengänge waren neu und für viele Studierende unabhängig von der familiären Disposition attraktiv. Traditionelle und mit hohem Sozialprestige verbundene Studiengänge hatten einen hohen bis sehr hohen Anteil an Studierenden, die ihren Vätern zu folgen versuchten. (Lara Flacke, Yara Zoch)




Klindworth

Abb.: Ausschnitt aus dem Matrikelbuch, der die sich für das Wintersemester 1910/1911 direkt untereinander immatrikulierenden Brüder Willy und Heinrich Klindworth zeigt. – Universitätsarchiv Göttingen.

Anfang des 20. Jahrhunderts gab es nur wenige Universitäten in Norddeutschland, so dass hier aus manchen Familien mehrere Kinder studierten. Edith Steins Schilderung ihrer Anfangszeit in Göttingen im Sommersemester 1913 lässt erahnen, was es hieß, wenn Geschwister gemeinsam studierten:
Wenige Tage nach mir kam Rose an, und nun richteten wir uns miteinander häuslich ein. Wir hatten zusammen zwei Zimmer; in einem schliefen wir beide; das größere war unser gemeinsames Wohn- und Arbeitszimmer. […] Soweit es ihre Zeit erlaubte, nahm Rose an meinen philosophischen Vorlesungen teil; ich trieb auch ein wenig mit ihr Mathematik. (Stein, 2001, S. 23)
Im Wintersemester 1910/11 studierten mindestens 66 Geschwisterpaare bzw. -trios in Göttingen. Doch nicht allein die Tatsache, dass immerhin knapp 6 % aller Studierenden Geschwister waren, war für die Universität als soziale Gemeinschaft von Belang. Alle Geschwister kamen aus Deutschland, wobei 17 Paare Göttingen als Herkunftsort angaben. 11 Geschwisterpaare immatrikulierten sich neu zum WiSe 1910/11, in weiteren 18 Fällen schrieb sich zumindest ein Geschwisterteil neu ein. 12 aller Geschwisterpaare studierten das gleiche Fach und wohnten dazu im gleichen Haus. 25 Paare studierten zwar nicht dasselbe, wohnten aber zusammen. 7 Geschwisterpaare waren im gleichen Studiengang eingeschrieben, aber nicht an derselben Adresse gemeldet. Bei den drei Geschwistertrios trafen die Faktoren teilweise zu. Vielfach zogen Geschwister gemeinsam in eine Wohnung, wenn sie zeitgleich ihr Studium aufnahmen. Hierzu gehörten beispielsweise die Schwestern Marie und Ursula Rotzoll aus Hannover, die eine Wohnung in der Weender Chaussee 1 bezogen und beide Neuere Sprachen studierten. Ähnlich handelten Heinrich und Willy Klindworth: Ihr verstorbener Vater war Hofbesitzer, doch ihre Mutter lebte weiterhin in Vierden, dem Geburtsort der Brüder. Beide nahmen ihr Studium der Neueren Sprachen zum WiSe 1910/11 auf, sie schrieben sich hintereinander im Matrikelbuch ein, wohnten zusammen in der Planckstraße 10a und erlangten laut Matrikel am 4. Oktober 1911 einen Abschluss.
Eines der besagten Trios bestand aus den Geschwistern Friedrich, Hermann und Paul Crusius, wobei sich Friedrich zum Wintersemester 1910/11 neu immatrikulierte. Vater Crusius war zu dem Zeitpunkt Hauptpastor in Hannover-Linden, was Friedrich und Paul, wovon letzterer seit dem WiSe 1908/09 in Göttingen war, wohl zum Theologiestudium bewog. Hermann, schon zum Winter 1907/08 eingeschrieben, hatte sich für Philologie entschieden. Alle drei wohnten in Göttingen für sich, Friedrich und Paul zumindest in der gleichen Straße (Stumpfebiel 8 bzw. 2). August und Karl Eggers, deren Vater Mittelschullehrer in Hildesheim war, kehrten zum Wintersemester 1910/1911 nach Göttingen zurück, nachdem August zwischenzeitlich in Tübingen und Karl in Kiel studiert hatten. während nun August, Student der Theologie, in die Rote Straße 50 zog, wohnte Karl, Philologiestudent, in der Weender Straße 70. Andere Geschwister zogen zusammen, wie Elisabet (in der Matrikel Elisabeth) und Paul Woldsted: Ihr Vater arbeitete als Gymnasialprofessor in Hadersleben, von wo aus die Geschwister zum Studium nach Göttingen gingen. Paul begann schon im Sommer 1909 mit dem Studium der Naturwissenschaften, während Elisabet(h) sich zum WiSe 1910/11 für die Neueren Sprachen einschrieb. Bei ihrer Ankunft in der Stadt zog Elisabet(h) gemeinsam mit ihrem Bruder, der im SoSe 1910 noch im Rosdorfer Weg wohnte, in die Herzberger Chaussee 32.
Hingegen wird anhand von Heinrich und Julius Meyer sichtbar, dass in Göttingen auch Studenten noch in ihrem Elternhaus wohnten. Ihr Vater war örtlicher Stationsvorsteher mit Wohnsitz in der Gartenstraße 27, welche die Söhne als Adresse bei der Immatrikulation angaben.
Unter den Geschwisterpaaren befanden sich keine ausländischen Studierenden, ohne dass hierfür Gründe erkennbar sind. (Moritz Specht)




Bela Pogany, Hjàlmar Brotherus, Mabel Porter und Kota Murakami gehörten zu den 146 ausländischen Studierenden, die sich zum Wintersemester 1910/1911 in Göttingen immatrikulierten:

Kreisdiagramm Herkunft Ausländische Studierende

Abb.: Anzahl der Studierenden aus den verschiedenen Ländern nach Bezeichnung im Personalverzeichnis (N=146; Ungenauigkeiten bei den Prozentzahlen ergeben sich aus der Rundung). – Anne-Dorothea Schmiesing.

Der Großteil dieser Studierenden (102, also knapp 70 % von ihnen) stammte aus europäischen Ländern. 40 von ihnen kamen aus dem Russländischen Reich*, sodann 22 aus Österreich-Ungarn und 9 aus Großbritannien und Irland. Studierende aus anderen europäischen Nationen machten jeweils weniger als 5 % aller ausländischen Studierenden aus, doch kamen immerhin 7 aus der Schweiz sowie beispielsweise je einer aus Serbien und dem Osmanischen Reich (im Personalverzeichnis benannt als Türkei). Größere Gruppen von Studierenden, die nicht aus Europa kamen, stammten aus Amerika (28 Studierende), genauer: viele aus den USA oder auch z.B. einer aus Kuba, sowie aus Asien (16 Studierende), vermutlich vor allem aus Japan.
Die nationale Herkunft steht allerdings nicht für homogene Gruppen, wie die Studierenden aus dem Russländischen Reich belegen: Zu ihnen gehörten beispielsweise Maximilian Augarten aus Warschau, Jeremias Großmann aus Odessa, Erwin Hirschfeldt aus Reval (heute Tallinn), Georg Pack aus Moskau, Julian Przedborsky aus Lodz (Łódź), Nadeschda Galli aus Omsk, Anastasia Neclepaewa aus Erivan (Jerewan), Waclav Dziewulski aus Warschau, Michael Iwanoff aus Simbirsk (Uljanowsk) und Michael Martschwesky aus Charkow (Charkiw). Damit kamen die Studierenden aus vielen unterschiedlichen Gebieten des Russländischen Reiches, die z.B. heute in Polen, der Ukraine, Estland, der Russländischen Föderation und Armenien liegen. Zugleich trugen sie zumindest in Teilen Namen, die deutsch klingen. Dieses Phänomen ist z.B. auch bei Studierenden aus Rumänien und Amerika beobachtbar, wenn auch nicht unbedingt in derselben Anzahl. Einerseits scheinen die Namen für eine deutsche Abstammung zu sprechen, doch andererseits müssen weitere Untersuchungen zeigen, ob z.B. bei einem Teil die Vor- wie die Nachnamen beim Eintragen eingedeutscht wurden. Aber auch an anderer Stelle kann der Eindruck trügen: Auch wenn sie die größte Gruppe darstellten, scheint insgesamt die Zahl der russländischen Studierenden im Wintersemester 1910/11 niedriger gewesen zu sein als zu dieser Zeit üblich in Göttingen, wie Trude Maurer zeigte (Maurer 2004, S. 219). Sie zeigt auch, dass in der Tendenz an anderen deutschen Hochschulen 45 % der ausländischen Studierenden aus dem Russländischen Reich kamen (Maurer 2004, S. 220). (Anne-Dorothea Schmiesing)
*Bewusst wurde sich für diese Bezeichnung entschieden, da sie die Multiethnizität des Reiches umfasst. (Neutatz 2013)




Auch die Studierenden aus dem Ausland mussten sich privat um eine Unterkunft kümmern. Im Wintersemester 1910/1911 konnten Studierende ein Zimmer – in der Regel zur Untermiete – bei Göttinger Vermietern nehmen, oder sie konnten zu mehreren in kleinen Wohngemeinschaften eine Mehrzimmerwohnung mieten, was vergleichsweise selten war. Tatsächlich veröffentlichte die Universität nicht nur die Namen der immatrikulierten Studierenden, sondern auch ihre Adressen. So ist erkennbar, dass die ausländischen Studierenden über das gesamte damalige Stadtgebiet verteilt wohnten:
In der Innenstadt lebten 22 von ihnen, dabei allerdings über viele verschiedene Straßen verstreut. Von der Oberen und Unteren Karspüle im nördlichen Bereich über die Barfüßerstraße, Jüdenstraße und den Theaterplatz im östlichen, sowie dem Papendiek und der Prinzenstraße im westlichen Bereich, zur Nikolaistraße im Süden sind viele Straßen von ausländischen Studierenden bewohnt. Dabei lebten aber in den meisten Straßen jeweils nur ein bis zwei ausländische Studierende. Es gab also keine Verdichtung von Studierenden aus dem Ausland, vielleicht auch weil die Innenstadt mit ihren überwiegend älteren Fachwerkhäusern wenig beliebt war.
Der Großteil der ausländischen Studierenden lebte in Häusern außerhalb des Stadtwalls. Viele von diesen waren erst ein bis zwei Jahrzehnte alt und boten möglicherweise attraktivere Wohnmöglichkeiten, was mangels Untersuchungen zum Göttinger Wohnungsmarkt Anfang des 20. Jahrhunderts allerdings nicht belegt werden kann. 32 ausländische Studierende bewohnten den nördlichen Teil Göttingens in Straßen wie der heutigen Humboldtallee, dem Kreuzbergring, der Goßlerstraße und den kleineren, sie kreuzenden Straßen wie der Arndtstraße, der Emilienstraße und der Bertheaustraße. Immerhin 10 Studierende aus dem Ausland wohnten in der Weender Landstraße, damals noch Chaussee genannt. Im Ostviertel Göttingens lebten die meisten der ausländischen Studierenden (41), besonders im Nikolausberger Weg, im Hainholzweg und in der Bühlstraße. Hingegen hatten sich nur drei Studierende im südwestlichen Teil Göttingens in Richtung Grone und Rosdorf ein Zimmer genommen, nämlich in der Wiesenstraße und im Schiefen Weg. Auch in der Südstadt waren um die Jahrhundertwende neue Gebäude errichtet worden. Die 31 hier lebenden Studierenden verteilten sich auf die Lotzestraße, die Schillerstraße, den Feuerschanzgraben und die heutige Felix-Klein-Straße, damals Lindenstraße.
Insgesamt lassen sich kaum Muster bei den Wohnorten der ausländischen Studierenden erkennen, auch wenn in wenigen Häusern mehrere Studierende wohnten. So finden sich Kombinationen wie die des französischen Schweizers Marcel de Pasquier aus Veytaux und des Japaners Takeyoschi Mori aus Kochi in der Friedrichstraße 4. In der Bunsenstraße 17 lebten ein Engländer, ein Belgier, ein Österreicher und ein Japaner unter einem Dach, doch sind keine Elemente einer Gruppenbildung erkennbar. Dies gilt auch für Studierende derselben Nation, umso mehr als beispielsweise Studierende aus dem Russländischen Reich keine homogene Gruppe bildeten: So wohnten Nadeschda Galli und Max Gurland in der Lindenstraße 6 (heute Felix-Klein-Straße), doch weder ihr Studiengang, ihr Studienbeginn, ihr Geschlecht, noch ihr Herkunftsort innerhalb des russländischen Reiches lassen Gemeinsamkeiten erkennen. Eine Ausnahme bildeten vier japanische Studenten in der Weender Landstraße 41, sowie einer in Nummer 48. Weitere japanische Studenten wohnten dann aber deutlich entfernt in der Planckstraße 18 oder im Nikolausberger Weg 56. Es fehlen allerdings Untersuchungen zu den Sprachkenntnissen von Studierenden aus dem Ausland, so dass kein Urteil möglich ist, ob sich einzelne Gruppierungen in Folge sprachlicher oder kultureller Anpassungsdesiderate bildeten.
Auch gab es offenbar keine geschlechtsbezogene Gruppenbildung. Vielmehr lebten weibliche Studierende häufig im selben Haus mit männlichen Studierenden: Neben Nadeschda Galli wohnten beispielsweise Inna Lehmann (Russland, Petersburg) und Walter Specht (Russland, Riga) in der Goßlerstraße 8 sowie die Schottin Agnes Macfaedzean zusammen mit den Amerikanern Clinton Currier und Royal Porter im Hainholzweg 20. (Juliane Fimpel)




Bürgerstraße 31, Corps Brunsviga

Abb.: Fotografie des Verbindungshauses des Corps Brunsviga in der Bürgerstraße 31, um 1900. – Städtisches Museum Göttingen.

Anders als heute prägten studentische Verbindungen die Universität im Wintersemester 1910/1911 – insgesamt waren beim Kurator 46 studentische Verbindungen und Vereine gemeldet, die in zwei Gruppen eingeteilt werden können, nämlich in 17 studentische Vereine und 29 Studentenverbindungen. Während manche der Verbindungen noch heute in Göttingen präsent sind, haben sich die meisten Vereine nicht halten können, sondern lösten sich aus diversen Gründen irgendwann auf oder entwickelten sich zu Verbindungen. Insgesamt waren im Wintersemester 1910/11 765 von 2215 Studierenden Mitglied in einer Studentenverbindung oder einem studentischen Verein.
Die studentischen Vereine standen, anders als die Verbindungen, weder für eine lebenslange noch für eine exklusive Mitgliedschaft. Vielmehr dienten viele Vereine wie der Theologische Verein oder der Klassisch-Philologische Verein dem gesellschaftlichen Leben von Studierenden desselben Studiengangs. Andere Vereine hatten die gemeinsame Freizeitgestaltung zum Ziel – beispielsweise unterhielt der akademische Skiclub eine Skihütte. Andere Vereine wandten sich gezielt an die weiblichen Studierenden, der Verein studierender Frauen und der Gesangverein studierender Frauen, während mit der freien Studentenschaft und der Freischar Göttingen, einem universitären Wanderverein, zwei Vereinigungen sowohl Frauen als auch Männer aufnahmen. Der Zuspruch zu den Vereinen war hoch – ihre Gesamtanzahl betrug 288 Studierende. Keiner davon war von ausländischer Herkunft. Gleichzeitig Mitglied in einer Studentenverbindung waren 15 Studierende. Von 193 weiblichen Studierenden waren 49 Mitglied in einem Verein.
Wesentlich bedeutender als die Vereine waren die 29 Verbindungen, welche sich im Laufe des 19. Jahrhunderts aus älteren Formen studentischen Gemeinschaftswesens entwickelt hatten. Allen gemein war die lebenslange Gemeinschaft. Der erste Verbindungstyp, der sich bereits Anfang des 19. Jahrhunderts heraus formte, umfasste die sogenannten Corps, die ältere studentische Traditionen zu erneuern suchten. So trugen die Studenten Farben ihrer Verbindung als Brustband und Mütze in der Öffentlichkeit – sie betrieben das studentische Fechten, sowohl in der Form eines ausgemachten Zweikampfs (Bestimmungsmensur) als auch des lebensbedrohenden Duells. Die Corps gaben sich unpolitisch, doch sie legten großen Wert auf soziale Exklusivität.
Die Burschenschaften hingegen agierten politisch und versuchten, teils radikal, eine Reichseinigung zu erreichen. Nach der Reichsgründung 1871 schwächte sich ihre politische Radikalität ab, doch sie behielten eine deutschnationale Gesinnung. Nicht alle Burschenschaften pflegten das studentische Fechten. Als dritte Gruppe der Verbindungen bildeten sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die Landsmannschaften, die anfangs lediglich die Studierenden aus einem geographisch-politischen Raum aufzunehmen versuchten, was sich jedoch nicht durchhalten ließ. Zeitgleich entwickelten sich die Turnerschaften, bei denen anfangs die sportliche Betätigung im Zentrum stand. Tatsächlich übernahmen sowohl die Landsmannschaften als auch die Turnerschaften das Farbentragen wie das studentische Fechten. Einen anderen Weg schlugen die sogenannten christlichen Verbindungen ein, die das studentische Fechten ablehnten.
Im Wintersemester 1910/11 trug die Mehrheit der Göttinger Verbindungen Farben und betrieb das studentische Fechten, so hatten die sieben Corps, vier fechtenden Burschenschaften, die beiden Turnerschaften und die drei Landsmannschaften insgesamt 221 Mitglieder. Die christlichen Verbindungen vereinten in einer Überkonfessionellen, einer Evangelischen und drei katholischen Verbindungen insgesamt 101 Mitglieder, womit sie die zweitgrößte Gruppe bilden. Die beiden musischen Vereine hatten 64 Mitglieder, während im politischen Verein Deutscher Studenten 19 Mitglieder waren. Diese drei Verbindungen waren ursprünglich als Vereine gegründet worden, hatten sich aber im Laufe ihres Bestehens zu Verbindungen gewandelt. In den Burschenschaften, welche das Fechten ablehnten, waren 39 Studenten. Die beiden schwarzen Verbindungen hatten 23 Mitglieder. Die akademische Turnverbindung hatte 10 Mitglieder. Insgesamt waren 327 Studenten farbentragend. 269 Studenten betrieben das studentische Fechten. Lediglich ein Student aus dem Ausland wurde in eine Verbindung aufgenommen. (Fabio Ringwald)