Kunstwerk des Monats im November 2019
03. November 2019
Marcus Behmer: Ein »Großmeister der grafischen Kleinkunst« in Göttingen
Vorgestellt von: Julius von Hausen
Es ist ein Glücksfall, dass sich heute zahlreiche Werke des „Vorkämpfer[s] einer neuen buchkünstlerischen Kultur“ Marcus Behmer (1879–1956) in der Göttinger Universitätskunstsammlung befinden. Das umfangreiche Konvolut von Papierarbeiten stammt aus dem Nachlass des Göttinger Juristen und Kulturhistorikers Otto Deneke (1875-1956), der den Künstler 1905 in Weimar kennengelernt hatte. In den folgenden Jahren entwickelte sich ein reger schriftlicher Austausch. Deneke ließ Behmer Exlibris für sich und seine Frau entwerfen und erwarb eine Reihe von Zeichnungen und Drucken, die ihm der damals in Florenz lebende Künstler zur Auswahl und gegen Ratenzahlung zusandte. Das Göttinger Konvolut, das 1971 für die Sammlung erworben werden konnte, umfasst 45 Blätter, darunter Zeichnungen in unterschiedlichsten Techniken sowie Radierungen, Holzschnitte, Lithographien und klischierte Vervielfältigungen von Exlibris. Von besonderem Interesse sind die 19 Briefe und Postkarten des Künstlers an das Ehepaar Deneke, die ebenfalls hier verwahrt werden. Dieser Schriftverkehr ermöglicht Einblicke in die akribische und perfektionistische Arbeitsweise des Künstlers, die oftmals dazu führte, dass er vereinbarte Termine nicht einhalten konnte. Er gibt zudem Aufschluss über die von Selbstzweifeln und Existenzängsten geplagte, aber stets von Optimismus erfüllte Persönlichkeit Marcus Behmers. Der unter Geldnöten leidende Künstler, der nur schwer seine Werke verkaufen konnte, ließ keine Gelegenheit aus, seinen Gönner Otto Deneke darum zu bitten, Werke von ihm anzukaufen oder ihm neue Auftraggeber und Käufer zu vermitteln.
Die Briefautographen beschränken sich auf den Zeitraum 1906–1908 und somit nur auf einen kleinen Zeitraum des Schaffens. Zu jener Zeit setzte er sich in Florenz intensiv mit der Buchgestaltung und der Schrift der Frührenaissance auseinander und eignete sich neue Techniken an, die sein späteres Werk maßgeblich prägen sollten. So ist diese Phase auch eine der fruchtbarsten und produktivsten, er löst sich vom Jugendstil und entdeckt neue Techniken wie die der Radierung für sich.
Behmers künstlerisches Schaffen beschränkt sich auf Papierarbeiten, was sich nach eigener Aussage auf seiner „glühende[n], vielleicht fast manische[n] Leidenschaft […] von früher Kindheit an: […] [der] Liebe zu Papier“ begründet. Der in Weimar geborene Behmer erfuhr keine traditionelle akademische Künstlerausbildung. Nach einer 1897 angetretenen, nach 1 ½ Jahren jedoch abgebrochenen Lehre zum Dekorationsmaler an den Münchener Vereinigten Werkstätten bildete er sich unter dem Einfluss der Jugendstilbewegung autodidaktisch weiter. Die Göttinger Kreidezeichnung auf grau grundiertem Papier, die eine unheimlich anmutende nächtliche Straßenszene, möglicherweise in den Gassen seiner Heimatsstadt Weimar zeigt, entstand in dem Jahr, in dem Behmer seine Ausbildung in München antrat. In ihr sind noch keine der Einflüsse greifbar, die ihn in bald prägen sollten. Es ist eine der „alte[n] Sachen“, die der Künstler Deneke zur Ansicht (und zum Erwerb) zusandte, und die nach eigenen Worten den „Vorzug“ hatten,, dass sie „noch ohne eine Ahnung von Beardsley gemacht sind.“ Mit dem britischen Graphiker und Buchkünstler Aubrey Beardsley (1872–1892) nennt Behmer hier sein später wichtigstes Vorbild. Nach der Publikation erster graphischer Arbeiten in den Zeitschriften Simplicissimus und Jugend wurde seine künstlerische Handschrift von der Ästhetik des Orients, dem japanischen Holzschnitt und eben den Werken Beardsleys, allen voran dessen Illustrationen zu Oscar Wildes Salome (1893) geprägt. Später fanden die „antikischen, persischen, nordischen oder mitteleuropäisch-verspätet-jugendstilistischen“ Quellen Eingang in sein Werk. Seine Beherrschung von Ornamentik und die „phantasievolle, groteske und bizarre Zeichenweise“, wie in der unveröffentlichten Göttinger Zeichnung Der König und der Rabe, bescherten ihm den Ruf eines „Großmeister(s) der graphischen Kleinkunst“.
Für den Insel Verlag schuf Behmer Bücher von höchster Qualität, die er in einigen Fällen von der Typographie bis hin zum Buchschmuck gestaltete. Zu den bedeutendsten Werken der deutschen Buchkunst des frühen 20. Jahrhunderts zählen seine Illustrationen zu Oscar Wildes Salome (1903), die in der Göttinger Sammlung als Lithographien, „privat gedruckt“ bei Pöschel & Trepte, Leipzig, vorliegen.
Behmers Erfolg verebbte spätestens mit seinem Zerwürfnis mit dem Insel Verlag 1932. Unter dem Nationalsozialismus erfuhr der offen homosexuell lebende Künstler Verfolgung; er wurde unter dem Vorwurf der Päderastie inhaftiert und mit Berufsverbot belegt. Nach 1945 konnte er nicht mehr an seine früheren Erfolge anschließen und starb im September 1958 verarmt in Berlin-Charlottenburg.