Fontanes Kritiken
Machiavella
Scan des Originals sowie edierter Text und Stellenkommentar einer Theaterkritik aus dem Jahr 1872.
[Leonhard Kohl von Kohlenegg: Machiavella]
Dienstag den 11. Ju[n]i zum ersten Male: Macchiavella, historisches Genrebild in 2 Akten von L. K. v. Kohlenegg. Frl. Ziegler: Armand, Herzog von Fronsac.
Armand, Herzog von Fronsac, der Sohn des Herzogs von Richelieu (ein »echter Richelieu« wie er sich beständig nennt, ohne weitere Beweise dafür beizubringen) verliebt sich auf einem Ballfeste in Versailles so decidirt in eine schöne Maske, daß er dem gleichzeitig an ihn ergehenden Befehle des Königs »die schöne und reiche Louise v. Hautefort zu heirathen« zwar nachkommt, aber nur um sich sofort wieder, innerhalb der Grenzen, die die Kirche zuläßt, von ihr zu trennen. Zur Strafe dafür, übrigens unter Einkleidung in einen wunderbar schönen Schlafrock (ein »ächter Richelieu«) wandert er in die Bastille, wo ihn schließlich seine junge Gemahlin besucht und – das Stück, unter Auspustung sämmtlicher Lichter, in jedem Sinne deutungsreich endigt. Der Herr Verfasser dieses historischen Genrebildes hat wahrscheinlich zwischen der Madeleine und dem Boulevard de Sebastopol flanirt, soupirt, kokettirt und schließlich die Vorstellung ausgebildet, daß er, seinem Esprit nach, ein geborener Franzose sei. Darauf hin entstand das Stück, das keine Zeile hat, aus der es trotzdem nicht herausklänge: »o Kyritz, mein Vaterland«. Kyritz kann natürlich auch in Bayern liegen.
Es ist ein Stück, das zu gar keiner Jahreszeit gegeben werden sollte, am allerwenigsten aber im Sommer. Den ganzen ersten Akt hindurch brennen auf der Bühne etwa 70 Maskenball-Lichter und erzeugen eine Hitze, die beinahe ebenso hoch über Null steht, wie das Stück selbst unter Null. Ein lebhafteres Interesse flößte uns nur eine Rose ein, die der junge Herzog von Fronsac auf dem Maskenballe erhalten und drei Bastille-Wochen lang auf der Brust getragen hat. Sie ist völlig frisch und unverblüht, eine Wunderrose, wie die Rose von Jericho; für einen ächten Richelieu läßt sichs die Natur schon etwas kosten und durchbricht das langweilige Gesetz, wonach auch Rosenblätter welken, fallen und verwehen. Neben diesem bloßen Requisit glänzt, als beste Rolle des Stückes, der Gefangenwärter Gontard, der schon auf dem Zettel – man würde ihn sonst einfach für einen Statisten halten – die Bezeichnung trägt: stumm. Herr Pohl spielt ihn mit vieler Bravour. Es ist die einzige Figur des Stückes, die nichts Dummes sagt.
Der Herr Verfasser hat übrigens auch auf »dramatische Spannung« nicht ganz verzichtet, hat dieselbe aber in den beinah letzten Moment verlegt. Nachdem wir mehrere Minuten lang geschwankt haben, ob der ächte Richelieu, mit Rücksicht auf die Offenheit der Scene, mehr als Liebhaber oder als Ehemann zu Besorgnissen Veranlassung gebe, scheint plötzlich in dem Zusammenfall beider Eigenschaften, eine Verdopplung der Gefahr eintreten zu sollen; mit einer gewissen Dringlichkeit, wie bereits Eingangs hervorgehoben, wird Licht auf Licht gelöscht und das Herz des Zuschauers pendelt rathlos hin und her, ob er das Schwinden des Kronleuchters, das jeden Augenblick eintreten kann, mehr fürchten oder – wünschen soll. »Nacht muß es sein, wo Friedlands Sterne scheinen.«
Was den Dialog des historischen Genrebildes angeht, so erhellt er sich in der vorletzten Scene bis zu der Wendung: »Darf ich Sie um etwas Compott bitten?« eine Wendung, die einem armen Kritiker allenfalls das Recht giebt, seine Besprechung mit dem alten Weisheitsspruch zu schließen: »ich danke für Obst!« Th. F.
Leonhard Kohl von Kohlenegg: Machiavella. Aufführung vom 11. Juni 1872.
Erstdruck und Berliner Erstaufführung: Ms. München 1872; EA Berlin 11.6.1872.
Regisseur: (wird noch ermittelt)
Bühnenbildner: (wird noch ermittelt)
Schauspieler: Clara Ziegler, Herr O. Pohl (Vorname nicht ermittelt)
Theaterzettel: (wird noch ermittelt)
Weitere Besprechungen:
Überlieferung: (wird noch ermittelt)
H: –
E: Vossische Zeitung, Nr. 135, 13.6.1872, 2. Beilage.
D: NFA XXII/1, S. 168ff.; HFA 2, S. 82ff.; Plaudereien, S. 306f.
Texteingriff:
11. Ju[n]i] 11. Juli
Stellenkommentar:
L. K. v. Kohlenegg] Leonhard Kohl von Kohlenegg, auch Leopold Karl K. v. K., Leonhardt Karl Dietmar K. v. K., Leopold Karl Dietmar K. v. K.; Pseudonym Poly Henrion. (Vgl. Online-Katalog der Deutschen Nationalbibliothek.)
Armand, Herzog von Fronsac] Der Autor nimmt mit dieser Figur Bezug auf Louis-François- Armand de Vignerot du Plessis, Herzog von Fronsac, Großneffe des Kardinals Richelieu. Mit 14 Jahren wurde er mit Anne-Catherine de Noailles verheiratet; wegen zahlreicher Affären am Hofe Ludwigs XIV. wurde er von seinem Stiefvater für 14 Monate in die Bastille gesperrt. (Meyers)
Schlafrock (ein »ächter Richelieu«)] Anspielung auf die Richelieustickerei, eine Weißstickerei mit Reliefumrandung. (Meyers)
Bastille] Als Gefängnis dienende Stadttorburg in Paris.
Madeleine […] Boulevard de Sebastopol] Gebiet in Paris zwischen der Kirche La Madeleine und dem Boulevard de Sébastopol; beliebte Flaniermeile mit zahlreichen exklusiven Geschäften. Vgl. Baedeker Paris und Nord-Frankreich 1867, S. 47: »Auf den lebhaftern Theilen der Strasse, vom Boulevard de la Madeleine an bis zum Boulevard de Sébastopol [ist] ein solches Treiben, dass ein ruhiges Betrachten der reichen Schauläden und Magazine sehr erschwert wird. Die Magazine am Boulevard des Italiens und den angrenzenden Boulevards überragen an Reichthum, Glanz und Geschmack jetzt bei weitem die des Palais-Royal.«
»o Kyritz, mein Vaterland«] Aus der Vaudeville-Posse »Ein Abend vor dem Potsdamer Thore« (1830) von Carl Blum stammt das Zitat: »Ach, das Vaterland! nichts geht über das Vaterland! O Kyritz, mein Vaterland!« (Dritter Auftritt).
Kyritz […] Bayern liegen.] Kohlenegg, der in Deutschland gelebt hat, stammte nicht aus Bayern, wie es der Text nahelegt, sondern wurde in Wien geboren.
Rose von Jericho] Wüstenpflanze, die sich im vertrockneten Zustand in ein bräunliches Knäuel zusammenzurollt, sich aber im Wasser wieder entfaltet.
»Nacht […] Sterne scheinen.«] Zitat aus Schillers »Wallensteins Tod«, 3. Aufzug, 11. Auftritt: »…wo Friedlands Sterne strahlen.« (Hervorhebung D. H.)
Comtesse Dornröschen
Auszug aus einer Rezension von 1875, in der Fontane auf amüsante Weise vernichtende Kritik an der Aufführung von Anton Günthers »Comtesse Dornröschen« übt.
Königliche Schauspiele
Donnerstag, den 16. Dezember, neu einstudirt: Die Geschwister, Schauspiel in 1 Akt von Goethe. Hierauf zum ersten Male: Comtesse Dornröschen, Genrebild in 1 Aufzug von A. Günther.
In: Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen. Berlin. Nr. 296, 18. Dezember 1875, 4. Beilage.