Kunstwerk des Monats im September 2007
02. September 2007
"Der Traum von den Helden Homers" von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein
Vorgestellt von: Prof. Dr. Hartmut Döhl
Zwei in der Göttinger Kunstsammlung bewahrte Kriegerköpfe sind Zeugnisse einer Homerbegeisterung, die das 18./19. Jahrhundert in starkem Maß geprägt hat. Ihr Maler, Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751-1824), sah in ihnen Helden der Ilias. Die Ilias ist ein gewaltiges kriegerisches Heldenepos, zugleich aber auch - wie Wilhelm Raabe es einmal lakonisch nannte - eine "Mordgeschichte". 1801 befanden sich beide Aquarelle bereits in Göttingen und so konnte Goethe am 9. Juni notieren: "Bey Heyne im Vorbeigehen die Tischbeinischen neuen Köpfe angesehen; sie stellen Agamemnon und Achill dar". Den Maler kannte Goethe aus seiner römischen Zeit (1786), hatte sich schnell mit ihm angefreundet und teilte mit ihm Wohnung und Homer-Verehrung: "Nicht genug kann ich sagen, was Tischbein ein guter und natürlich verständiger Mensch ist. Er gibt sich viel Mühe und ist gewiß auf einem guten Wege der Kunst".
Tischbeins italienischer Aufenthalt (1779-1799) war geprägt von seiner Liebe zu Homer einerseits, andererseits von seiner Überzeugung, daß wahre Kunst nur in der Nachahmung der Antike zu erreichen sei. Bedeutsam wurde für ihn die Begegnung mit Hamilton, dessen Vasensammlung er mit eigenen Zeichnungen publizierte. Aus seiner Arbeit heraus erwuchs ihm der Wunsch, einen illustrierten Homer zu publizieren. Mit Christian Gottlob Heyne (1729-1812) schien er dafür in Göttingen einen geeigneten Verbündeten gefunden zu haben. Gleich im ersten Heft des Lieferungswerks finden sich 1800/1801 die Köpfe der beiden Helden in zeichnerischer Version. Vor allem in Köpfen bei Menschen und Tieren sah Tischbein eine Quelle der Erkenntnis über Charakter und Werte. Bestätigt glaubte er sich dabei durch Lavaters physiognomische Studien. Den schwärmerischen Lavaterismus parodierte Lichtenberg 1779. In Italien war Tischbein zu einer puristischen Überschätzung der reinen Linie gelangt. Er wird hier getragen von einer Modeerscheinung der Zeit, die in den Homer-Zeichnungen des englischen Künstlers John Flaxman (1755-1826) einen Höhepunkt gefunden hatte.
Zeichnen war "in"; so hören wir aus Hannover 1801: "Mit Recht will auch das schöne Geschlecht im Kunstgeschmack nicht zurückbleiben, und Herr Huck giebt schon mehreren jungen Frauenzimmern, die des Morgens in einem Hause zusammenkommen, im Zeichnen Unterricht". So lag Tischbein auch hier im Trend der Zeit, als er 1799 in Göttingen eine "Zeichenakademie für Damen" gründete; floriert scheint das Unternehmen aber nicht zu haben. Tischbein selbst war aber bereits in Neapel einen Kompromiss eingegangen zwischen puristischer Zeichnung und farbigem Kolorit: Er hatte sich ein eigenes Kabinett eingerichtet mit 100 nachgemalten Vasenbildern, die er nach den darauf erzählten Geschichten aufgereiht hatte: "Ich hoffe, daß es viel beitrage um den guten Geschmack wieder einzuführen".