Titel des Projekts:
Internationaler fiskalischer Wettbewerb in einer erweiterten EU – Konsequenzen für die Finanzierung des Europäischen Sozialmodells am Beispiel der Unternehmensbesteuerung

Eine herausragende Rolle in der Konkurrenz der Nationalstaaten um mobile Produktionsfaktoren spielt der internationale fiskalische Wettbewerb mit seinen beiden Aktionsparametern Besteuerung einerseits und Bereitstellung öffentlicher Leistungen andererseits. Mit diesem Phänomen verbinden sich Befürchtungen, dass ein Steuersenkungswettbewerb zu einer Erosion der staatlichen Finanzen und somit der staatlichen Handlungsfähigkeit führt. Konkret interessieren die Konsequenzen eines auf den Aktionsparametern Unternehmenssteuern und öffentlichen Leistungen für Unternehmen basierenden fiskalischen Wettbewerbs zwischen alten und neuen Mitgliedsländern der EU für Höhe und Struktur der Unternehmensbesteuerung sowie des Angebots an öffentlichen Inputs.
Die bislang vorliegende Literatur konzentriert sich zumeist auf Ablauf und Konsequenzen des Unternehmenssteuerwettbewerbs; die Bereitstellung öffentlicher Inputs, die die Bruttorendite und damit auch die Nachsteuererträge von Investitionen erhöhen, wird oft vernachlässigt. Die vorliegenden Modellierungen des internationalen fiskalischen Wettbewerbs sind aus verschiedenen Gründen nicht anwendbar für eine Analyse von Ablauf und Konsequenzen eines Wettbewerbs um Direktinvestitionen zwischen alten EU-Mitgliedsländern und den potenziellen Beitrittsländern aus der Gruppe der mittel- und osteuropäischen (MOE-) Länder.
Erstens wird in der Regel angenommen, dass die am Steuerwettbewerb beteiligten Länder bzw. Regionen in Größe und wirtschaftlicher Struktur symmetrisch sind. Zwischen den EU-15-Ländern und den Beitrittskandidaten bestehen jedoch erhebliche ökonomische Disparitäten bezüglich der Kapitalausstattung, der Pro-Kopf-Einkommen sowie des staatlichen Angebots an öffentlicher Infrastruktur. Zweitens wird von einem homogenen Unternehmenssektor ausgegangen, der durch ein Unternehmen mit international mobilen Direktinvestitionen repräsentiert wird. Die Möglichkeit, dass Staaten mit Hilfe der im fiskalischen Wettbewerb entscheidenden Aktionsparameter Unternehmenssteuern und öffentliche Inputs zwischen binnenorien-tierten Unternehmen, die lediglich im nationalen Rahmen investieren, und Multinationalen Unternehmen, die grenzüberschreitende Direktinvestitionen tätigen, differenzieren, wird damit ausgeschlossen. Die Annahme ist jedoch plausibel, dass eine nationale Haushaltspolitik, deren Ziel die Attraktion von FDI ist, eine derartige Privilegierung Multinationaler Unternehmen versucht. Da in den alten und mehr noch in den potenziellen neuen Mitgliedsländern der EU die Unternehmenssektoren jedoch der Anzahl nach zum großen Teil aus binnenorien
tierten Unternehmen bestehen, erscheint eine Untersuchung möglicher Differenzierungsstrategien und ihrer Effekte von großer Bedeutung.

Forschungsprogramm

Ausgehend von den skizzierten Defiziten der vorliegenden Literatur wird zunächst ein mikroökonomisches Modell erarbeitet, das die Auswirkungen unterschiedlicher Strategien des internationalen fiskalischen Wettbewerbs unter den Bedingungen einer international unterschiedlichen Ausstattung mit Realkapital und öffentlicher Infrastruktur auf die internationale Allokation von Direktinvestitionen sowie Niveau und Struktur der Unternehmensbesteuerung und des staatlichen Angebots an öffentlichen Inputs erfassen kann. Aus diesem Modell sollen auch Voraussagen darüber abgeleitet werden, ob und inwieweit es bei Unternehmensbesteuerung und öffentlicher Infrastruktur zu einer zwischenstaatlichen Konvergenz kommt oder ob vielmehr ein divergenter Entwicklungspfad zu erwarten ist. Hieran schließt sich eine Beschreibung der Unternehmenssteuersysteme der MOE-Kandidatenländer an. Für Polen, Ungarn und die Tschechische Republik als die drei als ökonomisch am bedeutsamsten eingeschätzten Kandidatenländer der ersten Beitrittsrunde sollen schließlich makroökonomische und mikroökonomische effektive Grenz- und Durchschnittsteuersätze ermittelt werden, um Hinweise auf einen bereits existierenden internationalen Steuerwettbewerb zu finden.

Bezug zum Rahmenthema des Graduiertenkollegs

Ein steuerlicher Unterbietungswettbewerb um mobile Faktoren schränkt erstens die Finanzierungsspielräume von Nationalstaaten und damit deren Möglichkeiten zur Bereitstellung öffentlicher Leistungen ein. Zweitens birgt er die Gefahr einer Diskriminierung immobiler gegenüber mobilen Faktoren und damit einer Verletzung grundlegender Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen, die dem Europäischen Sozialmodell zugrunde liegen. Ob und wie ein sich mit der Osterweiterung der Europäischen Union möglicherweise verschärfender fiskalischer Wettbewerb die Verwirklichung von Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen als Leitprinzipien für die Ausgestaltung von Steuersystemen und damit einen Kernbestandteil des Europäischen Sozialmodells gefährden kann, will dieses Forschungsvorhaben aus einer ökonomischen Perspektive am Beispiel des fiskalischen Wettbewerbs um Unternehmen untersuchen.
Dabei wird ein umfassendes Konzept des Europäischen Sozialmodells zugrunde gelegt, das sich nicht auf die Gesamtheit sozialpolitischer Institutionen und damit auf die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik beschränkt. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass zu den tragenden Säulen des Europäischen Sozialmodells auch fiskalische Regulierungen des Unternehmenssektors gehören, die bei der Besteuerung und der Versorgung mit öffentlichen Leistungen nicht zwi-schen unterschiedlich mobilen Unternehmenstypen diskriminieren.
Zwei alternative Entwicklungspfade – Konvergenz versus Divergenz – sind in einer erweiterten EU für die den Unternehmenssektor betreffenden fiskalischen Regulierungen denkbar. Es wird zu untersuchen sein, ob sich die das Europäische Sozialmodell kennzeichnenden fiskali-schen Institutionen auch in den neuen Mitgliedsländern Mittel- und Osteuropas durchsetzen werden, mithin also eine Angleichung der fiskalpolitischen Regulierungen dieser Länder an diejenigen der „europäischen Kernfamilie“ stattfindet, oder ob vielmehr die zu erwartende Intensivierung des fiskalischen Wettbewerbs diese fiskalischen Regulierungen in den alten Mitgliedsländern untergräbt. Die Alternative hierzu ist eine divergente Entwicklung alter und neuer Mitgliedsländer, indem letztere fiskalische Wettbewerbsstrategien verfolgen, die einem Wettbewerbsmodell entsprechen, während es ersteren gelingt, ihre wohlfahrtskapitalistischen fiskalischen Institutionen zu verteidigen. Insgesamt will das Forschungsvorhaben also, indem es ökonomische Ansätze mit einer sozialpolitiktheoretischen Fragestellung verknüpft, einen Beitrag zu der Diskussion um die Zukunft des Europäischen Sozialmodells leisten.