Kunstwerk des Monats im April 2010
11. April 2010
"Der Tod Mariens von Rembrandt, Radierung von 1639"
Vorgestellt von: Prof. Dr. Thomas Noll
Den Tod Marias stellt Rembrandt 1639 in einer Radierung dar. In einem hohen Gemach sieht man die Muttergottes, eine alte Frau, auf ihrem Lager, das ein Betthimmel hoheitsvoll überfängt; zahlreiche Personen umringen sie, in deren Gesten und Mienen das Geschehen sich vielfältig widerspiegelt. Während Petrus der Sterbenden noch das Kissen zurechtrückt, daneben ein Arzt ihr den Puls fühlt und links ein Priester mit gefalteten Händen zusieht, drängen andere ängstlich und besorgt herzu, sprechen Gebete oder sitzen abgewandt in einem Gespräch; von rechts tritt noch ein älterer Mann hinter einem mächtigen Vorhang in das Sterbezimmer. Doch über der irdischen Sphäre, oberhalb des Baldachins, hat sich der Himmel geöffnet, und in den herabquellenden Wolken gewahrt man Engel und Putten, die der Hinscheidenden segnend entgegenkommen.
Über den Tod der Muttergottes schweigt die neutestamentliche Überlieferung; ein letztes Mal wird Maria hier im Kreis der Urgemeinde erwähnt (Apg 1, 14). Doch wie in dem außerbiblischen - apokryphen - Protevangelium des Jakobus bereits im 2. Jahrhundert von deren Herkunft und Kindheit berichtet wird, so entstanden wohl seit dem 5. Jahrhundert (legendarische) Schilderungen, die Auskunft geben über die Umstände von Marias Tod (Transitus-Mariae-Legenden). Danach wurde der Muttergottes drei Tage zuvor von einem Engel der Tod angekündigt, und auf ihren Wunsch sah sie die Apostel, die aus ihren verschiedenen Missionsgebieten auf Wolken wunderbar herbeigeführt wurden, an ihrem Sterbelager versammelt. Christus selbst aber kommt mit Engelsgefolge in der Todesstunde und nimmt die Seele seiner Mutter in Empfang.
Marianische Themen im Allgemeinen und nun gar die legendarischen Todesumstände der Muttergottes waren kein Thema für die calvinistischen nördlichen Niederlande im 17. Jahrhundert. Neben der reformierten Kirche als der ‚Öffentlichkeitskirche’ (Publieke Kerk) behielt jedoch der Katholizismus mit schätzungsweise einem Drittel der Bevölkerung, wenn auch im "Untergrund", eine beträchtliche Anhängerschaft in Holland und den übrigen nordniederländischen Provinzen. Zweifellos zunächst für ein katholisches Publikum schuf Rembrandt seine Radierung (und nicht diese nur), wie auch sonst Katholiken zu seinen Kunden gehörten.
Künstlerisch bezeichnet das Blatt eine Auseinandersetzung mit Albrecht Dürers entsprechendem Holzschnitt (1510) in dessen "Marienleben", von dem Rembrandt ein Exemplar im Jahr zuvor, 1638, erworben hatte. Ein Vergleich damit gibt nun aber auch, abgesehen von allen formalen Unterschieden, die besondere Auffassung des Marientods bei Rembrandt zu erkennen. Bei Dürer sieht man, wie die Apostel der Muttergottes die Sterbesakramente spenden, ganz nach dem derzeit herrschenden (katholisch-)kirchlichen Ritus, der die Sterbekerze, den Gebrauch von Weihrauch und Weihwasser mit einschließt. Anders zeigt Rembrandt in dieser Hinsicht neben einem als jüdisch zu verstehenden Priester und seinem jungen Begleiter nur, und prominent im Vordergrund, eine Gestalt, die aus einem mächtigen, vor ihr aufgeschlagenen Folianten - der Bibel - wohl eben noch der Sterbenden vorgelesen hat. Das aber konnte im Einverständnis mit Johannes Calvin geschehen, der, etwa in der Genfer Gottesdienstordnung von 1542, als Aufgabe des Pfarrers festgelegt hatte, dass er Kranke und Sterbende "zu besuchen und sie durch das Wort des Herrn zu trösten" habe. Die "historisierende" Darstellung des "jüdischen" Priesters, der in der traditionellen Schilderung des Marientods durchaus keinen Platz hat (ja geradezu im Gegensatz zu den Legenden steht), und die auffällige Bibellektüre, überdies der Verzicht auf die Wiedergabe aller (und hauptsächlich) der Apostel zugunsten einer vielgestaltigen Gruppe von Personen, einschließlich eines Arztes, um das Sterbelager geben dem Geschehen nicht nur einen geschichtlich überzeugenderen Charakter, sondern rücken sie auch in größere Nähe zur derzeitigen protestantischen Lebenswelt. Auch ein Anhänger der reformierten Kirche hätte mit dieser Darstellung des Marientods - der exemplarisch doch immer einen "guten Tod" bezeichnen mochte - sich arrangieren können. Die Hinzukunft der Engel (immerhin nicht von Christus) als Einbruch der übernatürlichen Welt bei diesem Tod war der Muttergottes, die mit himmlischen Boten seit den Tagen der Verkündigung auf vertrautem Fuß stand, auch von Reformierten nicht zu missgönnen.