Kunstwerk des Monats im Februar 2012


05. Februar 2012
Raue Sitten: Heinrich Aldegrevers Kupferstiche „Titus Manlius Torquatus läßt seinen Sohn hinrichten“ und „Herkinbald ersticht seinen Neffen“(1553)
Vorgestellt von: Prof. Carsten-Peter Warncke

AldegreverEin Vorzug der graphischen Sammlung der Göttinger Universität sind die vielen kunst- und kulturgeschichtlich bedeutenden Werke, die sie bewahrt. Dazu gehören auch zwei Kupferstiche, die man auf den ersten Blick wegen ihrer geringen Größe als nebensächlich abtun würde. Geschaffen hat sie Heinrich Aldegrever, der 1502 in Paderborn als Sohn eines Holzschuhmachers geborene und in Münster ausgebildete Maler, Grafiker und Siegelschneider, der als der bedeutendste westfälische Künstler im zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts gilt. Seit etwa 1526 besaß er das Bürgerrecht der Stadt Soest, wo alle seine wichtigen Arbeiten entstanden. Er starb zu einem heute nicht mehr genau bestimmbaren Zeitpunkt zwischen 1555 und 1561.

Sein Oeuvre umfasst Altargemälde ebenso wie Holzschnitte und es spiegelt wie kaum ein anderes die Situation seiner Zeit. Besonders berühmt sind seine Porträts von Jan van Leyden und Bernd Knipperdolling, den beiden Anführern der Münsteraner Wiedertäufer. Aber vor allem seine Kupferstiche sind sowohl wegen ihrer graphischen Qualität wie auch wegen ihrer merkwürdigen und bemerkenswerten Darstellungen außerordentlich interessant. Er schulte sich hier an Albrecht Dürer, wie schon seine Signatur verrät, die eine Variante des berühmten Dürerschen AD ist. Wegen ihres überwiegend geringen Formates zählt Aldegrever zu den sog. Kleinmeistern, einer Gruppe von Nachfolgern Dürers, für die vorzügliche Stiche kleiner Größe charakteristisch sind.
Die beiden hier vorzustellenden Blätter stellen Begebenheiten aus antik römischer und mittelalterlich-christlicher Zeit dar, die sowohl wegen der Themen wie auch wegen ihrer Funktion überaus bemerkenswert sind. Sie fußen auf einer spezifischen ikonographischen Tradition, die im Vortrag ebenso erläutert wird wie der genaue Zweck, dem die beiden Fassungen dienten, die Aldegrever überliefert. Denn er war zwar der Schöpfer der Stiche, aber nicht der ihrer künstlerischen Erfindungen! Ihre Entstehung zu rekonstruieren, heißt einen ganzen Kosmos damaliger Weltanschauung zu ergründen und eines der bedeutendsten, aber heute untergegangenen Werke der deutschen Kunst der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu erschließen.