Soziale Gerechtigkeit und normative Diskurse im Umbau der Alterssicherung: Deutschland und Spanien im Vergleich
Das Projekt versteht sich als Beitrag zur interdisziplinären Arbeit an einem übergreifenden theoretischen Bezugsrahmen für die Analyse des Wandels von Wohlfahrtsstaaten. In einer vergleichenden Untersuchung des Wandels der Alterssicherungsysteme in Deutschland und Spanien seit Mitte der 90er Jahre soll untersucht werden, welchen Einfluss Struktur und Inhalt politischer Diskurse und Semantiken auf die Richtung und die Intensität des Wandels nationaler wohlfahrtsstaatlicher Sicherungsysteme haben. Dabei wird die politikfeldübergreifende Frage nach der Rolle von Ideen, Argumenten und Überzeugungen im politischen Prozess auf das Feld der Sozialpolitik bezogen und somit der Versuch einer Erweiterung klassischer Policy-Analysen durch wissenssoziologisch- diskursanalytische Elemente vorgenommen.
Die Auswahl der Fälle Deutschland und Spanien entspricht der Differenzmethode. Beide Alterssicherungssysteme sind „klassische“ Vetreter des umlagefinanzierten Bismarck- Typus und stehen vor sehr ähnlichen demographischen und ökonomischen Herausforderungen. Während in Deutschland jedoch bereits bedeutende institutionelle Reformen in Richtung einer Teilprivatisierung der Alterssicherung stattgefunden haben, befindet sich Spanien noch in der Agenda Setting- Phase. Diese phasenverschobene Entwicklung bietet eine gute Gelegenheit, Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Transformationsprozess kontinentaleuropäisch-bismarckscher Alterssicherungssysteme insbesondere im Hinblick auf die Rolle gewandelter Deutungsmuster und Gerechtigkeitssemantiken zu untersuchen.
Im Zuge der gesamteuropäischen Tendenz zu einer angebotsseitig ausgericheten Verzahnung von Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik wandeln sich die politischen Prioritäten. Der wettbewerbs- und fiskalpolitisch motivierte Um- und Rückbau der sozialen Sicherungssysteme erzeugt einen hohen Rechtfertigungs- und Legitimationsbedarf. Die diskursive Konstruktion politischer Handlungsnotwendigkeiten erfolgt dabei immer auch unter impliziter oder expliziter Bezugnahme auf gesellschaftlich anerkannte, aber inhaltlich oftmals eher unbestimmte Wertmaßstäbe und Gerechtigkeitsprinzipien. Von besonderem theoretischen Interesse ist in diesem Zusammenhang die Frage nach der wohlfahrtsstaatlichen Zuweisung von Risikoverantwortung: im normativen Spannungsfeld von gesamtgesellschaftlichem Produktivitätskalkül und individuellen Teilhaberechten äußern sich grundsätzliche Fragen sozialer Ordnung, welche weit über Fragen der Alterssicherung hinausgehen.
Zur Analyse des Wandels der politischen Diskurse und Semantiken wird in einem ersten Schritt eine generelle Übersicht über die Struktur des Politikfeldes und seiner zentralen Entwicklungstendenzen aufgestellt. Im zweiten Schritt wird unter forschungspragmatischen Gesichtspunkten eine Auswahl der als relevant erachteten Akteure vorgenommen; neben der korporatistischen Trias aus Regierung und Sozialpartnern soll dabei ein besonderes Augenmerk auf die Aktivitäten privater Finanzdienstleister wie Versicherungen und Pensionsfonds und ihren respektiven Dachverbänden gelegt werden. In einem dritten Schritt wird schliesslich eine Inhaltsanalyse relevanter öffentlicher Äusserungen dieser Akteure aus den Jahren 1995-2005 vorgenommen (Bildung eines Textkorpus aus Parteiprogrammen, Positionspapieren, Parlamentsdebatten, Pressemeldungen, Zeitungsinterviews etc.). Zur computergestützten Auswertung, Systematisierung und Dokumentation wird das Programm MaxQDA 2 verwendet.