Nachruf auf Prof. Dr. Christian Wagenknecht
Das Seminar für Deutsche Philologie nimmt Abschied von Prof. Dr. Christian Wagenknecht, der am 26. August 2020 verstorben ist. Er war von 1972 bis 1998 als Professor für Neuere Deutsche Literatur am Seminar tätig und hat Herausragendes vor allem im Bereich der Metrik- und Karl Kraus-Forschung geleistet.Christian Wagenknecht wurde am 23. April 1935 in Breslau geboren. Er studierte in Münster und Göttingen. An das Göttinger Seminar für Deutsche Philologie kam er, um bei Wolfgang Kayser zu studieren, der hier bis zu seinem frühen Tod 1960 lehrte. Christian Wagenknecht wurde Assistent bei Albrecht Schöne und wurde 1965 mit seiner viel beachteten und einflussreichen Studie „Das Wortspiel bei Karl Kraus“ promoviert. Sie leitete die Karl Kraus-Renaissance ein und wurde 1975 in zweiter Auflage gedruckt. 1970 habilitierte sich Christian Wagenknecht mit einer Arbeit, die wiederum bahnbrechend war und Maßstäbe für die Metrikforschung setzte, „Weckherlin und Opitz. Zur Metrik der deutschen Renaissancepoesie“. Einen Ruf an die Universität Mannheim, an die er sich nach der Habilitation beworben hatte, nahm er nicht an, sondern blieb am Seminar für Deutsche Philologie, wo er von 1972 bis zu seiner Emeritierung 1998 als ordentlicher Professor wirkte. Hier bildete er einen Kreis von Schülerinnen und Schülern um sich, von denen einige ebenfalls die akademische Laufbahn eingeschlagen haben, so Harald Fricke, Hendrik Birus und Burkhard Moennighoff, um nur drei Namen aus verschiedenen Generationen zu nennen. Auch nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst blieb Christian Wagenknecht dem Seminar viele Jahre verbunden.
Mit den beiden Qualifikationsschriften sind zwei gewichtige Schwerpunkte der Forschung Christian Wagenknechts benannt. Zahlreiche Germanistik-Studierende haben von seiner Einführung „Deutsche Metrik“ (1981) profitiert. Sie nimmt Erkenntnisse aus der Habilitationsschrift auf und bereitet das nicht nur von Studierenden oft als sperrig aufgefasste Thema durch eine historisch-systematische Anlage und in einer sehr klaren Darstellung so auf, dass es sich gut vermitteln lässt. Diese Einführung erschien 2007 in der fünften, erweiterten Auflage. Seine an verschiedenen Orten publizierten Beiträge zur Metrik versammelte Christian Wagenknecht 2002 in dem Band „Metrica minora. Aufsätze, Vorträge, Glossen zur deutschen Poesie“, der in der Reihe „Explicatio“ bei Mentis erschien. Nicht nur die Metrik-, auch die Kraus-Forschung hat er maßgeblich mitgeprägt. Seine Dissertation gilt als Pionierarbeit der Erforschung von Kraus‘ charakteristischem Sprachgebrauch. Im Zentrum seiner Auseinandersetzung mit Kraus‘ Schriften steht die große Werkausgabe, die Christian Wagenknecht herausgegeben und kommentiert hat. Sie erschien in 20 Bänden in den Jahren 1986 bis 1994 bei Suhrkamp. Daneben besorgte er weitere, kleinere Sammlungen mit Texten dieses Autors, bis hin zur Aphorismensammlung „Karl Kraus für Gestreßte“ (2. Aufl. 1997). Zusammen mit dem österreichischen Kraus-Forscher Sigurd Paul Scheichl hat er die „Kraus-Hefte“ (1977-1994) herausgegeben, die Materialien und Beiträge zum Wirken des Autors publizierten. Kraus galten auch die letzten Publikationen Christian Wagenknechts. Noch 2011 erschien die Dokumentation der literarischen Fehde zwischen Karl Kraus und Franz Werfel, die er gemeinsam mit seiner Frau, der Mediävistin Eva Willms, herausgegeben und kommentiert hat.
Ein fachgeschichtlich wichtiges Thema hat Christian Wagenknecht darüber hinaus mit dem IX. Germanistischen Symposion der DFG „Zur Terminologie der Literaturwissenschaft“ (Würzburg 1986) gesetzt, das er leitete und dessen Beiträge er 1989 herausgab. Die Dokumentation des Symposions versammelt noch immer lesenswerte Beiträge zur Begriffsbildung, zu werkbeschreibenden Begriffen und Gattungsbegriffen sowie zur historischen Dimension literaturwissenschaftlicher Termini. Einige dieser Beiträge haben die weitere Fachentwicklung mit bestimmt; z.B. hängt das Symposion eng mit einem der wichtigsten Projekte zur Sicherung fachlicher Standards zusammen, dem „Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft“.
Weitere Veröffentlichungen Christian Wagenknechts zu literarischen Texten und Autoren umfassen die Zeit vom Barock bis ins 20. Jahrhundert mit einem Schwerpunkt auf der Goethezeit und dem beginnenden 20. Jahrhundert. Er hat unter anderem Beiträge zur Barocklyrik, zu Lichtenberg, Goethe und Jochmann, zu Borchardt und zur Konkreten Poesie vorgelegt. In der verdienstvollen Reihe „Epochen der deutschen Lyrik“ hat er den Band mit Gedichten von 1600 bis 1700 herausgegeben. Sowohl er selbst als auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus seinem Kreis haben maßgebliche Arbeiten zu literarischen Paratexten vorgelegt, speziell zur Widmung als Textsorte, in der sich Einzeltextanalyse mit einer sozialgeschichtlichen Perspektive verbinden lässt. Noch im höheren Alter hat sich Christian Wagenknecht mit den Möglichkeiten digitaler Literaturwissenschaft auseinandergesetzt. So sorgte er z.B. dafür, dass die Ausgabe der Werke Karl Kraus‘ auch in der Digitalen Bibliothek erschien, und er rezensierte im Jahrbuch für Computerphilologie den „Digitalen Grimm“, die 2004 erschienene elektronische Ausgabe des Wörterbuchs.
Als wissenschaftliche Person zeichnete Christian Wagenknecht sich unter anderem durch seine philologische Akribie, die Vielfältigkeit von Interessen und sein breites Wissen aus. Charakteristisch dafür ist, dass er viele Jahre lang zu den eifrigsten Nutzern der Bibliothek des Seminars für Deutsche Philologie zählte. Sein hohes wissenschaftliches Ethos und die Kardinaltugend der Philologen, Präzision, bildeten die Maßstäbe nicht nur für die eigene Forschung, sondern auch für die Forschung anderer. Mit einem seiner wichtigsten Anliegen, der Sprachkritik, stand er ganz in der Tradition Karl Kraus‘, ebenso wie mit seiner Streitbarkeit. Vor allem wissenschaftliche Texte unterzog er in dieser Hinsicht einer strengen Prüfung. Sachliche, begriffliche und argumentative Ungenauigkeiten etwa und das unpräzise Arbeiten mit literarischen Quellen forderten seine scharfe Kritik heraus. Modische, gedankenlos verwendete Floskeln hat er ebenso aufs Korn genommen wie strategisch eingesetzte Mittel, etwa die in literaturwissenschaftlichen Beiträgen gern und häufig verwendeten Chiasmen, und grammatische und stilistische Fehler, die sich in die Sprachverwendung eingeschlichen haben. Seine ab 1995 erscheinenden „glõssen. Als handschrift für freunde gedruckt“ enthalten zum einen wissenschaftliche Funde ihres Verfassers und geben zum anderen Zeugnis von seinem sprachkritischen Anliegen. Oft reichte es, die jeweilige Formulierung mit entsprechender, auch ironischer Rahmung zu zitieren, um die Leser das Schiefe, Falsche oder gar Absurde dieser Ausdrucksweise erkennen zu lassen. Der gelehrte Humor Christian Wagenknechts wird aber nicht allein in den „glõssen“ deutlich. Er zeigt sich z.B. auch in der gemeinsam mit Ernst-Peter Wieckenberg verfassten Abhandlung zur „Geheimsprache der Kustoden“, einer Wissenschaftssatire zu Ehren Albrecht Schönes, die so gut gemacht war, dass ihr einige Leser auf den Leim gingen. Zugleich war Christian Wagenknecht zugewandt und hilfsbereit und unterstützte seine Kolleginnen und Kollegen ohne viel Aufhebens. So bot er unprätentiös einer gerade nach Göttingen gekommenen jüngeren Kollegin an, in ihrer Vorlesung zur Lyrik vom Barock bis zur Gegenwart die Sitzung zur Metrik zu übernehmen – ein Angebot, das begeistert aufgenommen wurde, auch von den Studierenden in der Vorlesung.
Christian Wagenknecht starb im Alter von 85 Jahren nach längerer Krankheit. Das Seminar für Deutsche Philologie verliert mit ihm einen hervorragenden Wissenschaftler und hochgeschätzten Kollegen.