Das vielzählige Ich. Korrektur auf der ersten Typoskriptseite von Mein Jahrhundert

Von Lisa Kunze

Wie eine kleine Korrektur, die Neupositionierung eines einzelnen Wortes nur, den Fokus eines Satzes, ja eines ganzen Buches verschieben kann – das wird deutlich an der von Günter Grass überarbeiteten ersten Typoskriptseite des Text-Bild-Bandes Mein Jahrhundert.

Typoscript
Abb. 1: Von Grass korrigierte Seite aus einem nicht datierten Typoskript zu Mein Jahrhundert, Kopie des Originals aus der Sammlung des Lübecker Günter Grass-Hauses (Signatur im Göttinger Grass-Archiv: Cod. Ms. Grass-Archiv MJ A 6; Signatur des Lübecker Originals: GG M Jahr 3) © Günter und Ute Grass Stiftung


Mein Jahrhundert erzählt in kurzen Texten, die jeweils mit einer Jahreszahl von 1900 bis 1999 überschrieben sind, das 20. Jahrhundert aus unterschiedlichsten Perspektiven nach, mal aus Sicht eines Fußballspielers, einer Berliner Trümmerfrau oder aus derjenigen eines Germanistik-Dozenten, immer aber aus der Position eines Ich-Erzählers.
Im Typoskript – von dem sich im Göttinger Grass-Archiv eine Kopie des im Lübecker Günter Grass-Haus liegenden Originals findet – beginnt das erste Kapitel von Mein Jahrhundert, der Text zum Jahr 1900, mit dem Satz: „Ausgetauscht gegen mich, bin ich Jahr für Jahr dabei gewesen.“ Grass ändert nun die Satzstellung in den Korrekturfahnen und in dieser Form erscheint der Satz auch im gedruckten Buch: „Ich, ausgetauscht gegen mich, bin Jahr für Jahr dabei gewesen.“1 Liegt die Betonung in der ersten Variante noch auf dem Adjektiv „ausgetauscht“, das die wechselnden Erzähler in den einzelnen Kapiteln ankündigt, so wird durch die Korrektur und die Positionierung des „Ich“ am Satzanfang der Schwerpunkt gelegt auf eine gleichbleibende Instanz, die durch die Augen der verschiedenen Figuren das 20. Jahrhundert besichtigt.

So entwirft Grass ein Ich, das viele Stimmen hat, und auf seine Vielzähligkeit ver-schiedentlich in beiläufigen Formulierungen anspielt, etwa im Text zum Jahr 1902: „So etwas wurde in Lübeck zum kleinen Ereignis, als sich der Gymnasiast in mir eigens für Promenaden zum Mühlentor oder den Ufern der Trave entlang seinen ersten Strohhut kaufte.“2 Die Formulierung „der Gymnasiast in mir“ kann einerseits natürlich allein auf den Sprecher des Kapitels verweisen, der von einem späteren Zeitpunkt, zu dem er bereits Gerichtsassessor ist, auf seine Gymnasiastenzeit zurückblickt, andererseits aber auch auf die Erzählkonzeption des ganzen Buches. Auch im Text zum Jahr 1994 wird diese Konzeption reflektiert, wobei hier zwei Ichs zugleich präsent sind: ein sprechendes Ich und ein schreibendes. Das sprechende ist eine Hamburger Geschäftsfrau, die mehrmals auf das schreibende, männliche Ich hinweist: „Der mich hier niederschreibt und meint, mir ein Zeugnis ausstellen zu dürfen“, „Der Herr, der mich niederschreibt“.3
Dieses Prinzip spiegelt sich auch in den einigen Kapiteln zugeordneten Aquarellen von Grass, die immer wieder ein Kollektiv aus scheinbar identischen, austauschbaren Figuren zeigen, – und damit das mit unterschiedlichsten Stimmen sprechende und doch stets auf ein und dieselbe Instanz verweisende Ich ins Bild setzen.

1902 1994k

Abb. 2 + 3: Probedrucke zu den Doppelseiten 12f. und 384f. im Buch (Signatur im Göttinger Grass-Archiv: Cod. Ms. Grass-Archiv MJ B 8) © Steidl Verlag


Der Beginn des ersten Kapitels wird damit zum Programm des gesamten Buches: Das Ich steht trotz wechselnder Erzähler an erster Stelle. Gleichzeitig zeugt dieser einleitende Satz von einer Konzeption, die grundlegend für Mein Jahrhundert wie für Grassʼ Werk im Ganzen ist: ein erzählendes Ich, das gegen sich selbst ausgetauscht werden kann, folglich plural konzipiert ist – eine Vielzahl von Sprechern also, die doch immer auf dasselbe Ich zurückverweist und damit Voraussetzung ist für eine Erzählsituation, in der das Ich „Jahr für Jahr“ dabei sein kann – und das in einer Zeitspanne von hundert Jahren –, das darum „mein Jahrhundert“ sagen kann.


1 Günter Grass: Mein Jahrhundert. Göttingen 1999, S. 6.
2 Ebd., S. 13.
3 Ebd., S. 385f.