„Man müßte nach Stockholm schreiben.“
Eine Auszeichnung für Grass als Rattenliebhaber
Von Lisa Kunze
Im Jahr 1986 steht ein befrackter Herr in Stockholm vor dem schwedischen König und dem versammelten Nobelkomitee und hält die Laudatio auf eine Preisträgerin, deren Ehrung so manchen verwundert haben mag:
Endlich Majestät! Hohe Zeit wurde es, Verdienste zu würdigen und Leistungen für die Humanmedizin, besonders aber im Bereich der Genforschung und der so nachhaltig erfolgreichen Genmanipulation zu erkennen, die ohne die Ratte nicht denkbar gewesen wären. Nein, meine Damen und Herren! Wir sollten es uns nicht zu leicht machen, indem wir einschränkend nur die Laborratte ehren. Das wäre falsch und unredlich zugleich. Es soll das dem Menschen so nahe Rattengeschlecht allgemein, die Ratte an sich gemeint sein. Sie, die verkannte, den Schädlingen zugerechnete; sie, der jahrhundertelang alles Übel und jede Plage angedichtet wurde; sie, die als Schimpfwort herhalten mußte, wann immer der Haß, Schaum vorm Mund, seinen Ausdruck suchte; sie, die hier Schrecken hervorrief, dort Ekel erregte und allzeit dem Aas, dem Gestank, dem Müll beigesellt war; […] die Ratte soll hier gepriesen werden, weil sie ums Menschengeschlecht sich verdient gemacht hat. […] Nicht wegzudenken ist die Ratte aus der wechselvollen Geschichte des Men-schengeschlechts. Und nun, endlich, spät, doch hoffentlich nicht zu spät wird ihr Ehre zuteil. Humaner Dank spricht sich aus.1
Es ist der Erzähler aus Günter Grass’ Die Rättin, der sich hier imaginär nach Stockholm versetzt, um die Laudatio auf „das verdiente Rattengeschlecht“ zu halten. Dreizehn Jahre später, als Grass tatsächlich vor der Schwedischen Akademie seine Dankrede begann, erwähnte er gleich eingangs, ihm seien – dieser in der Rättin gehaltenen Laudatio wegen –, „rein literarisch gesichtet, dieser Saal und die einladende Schwedische Akademie nicht fremd“. Und noch einmal hob er hervor, wie lang erwartet die Würdigung der Ratte durch das Nobelkomitee war: „Sie hat den Nobelpreis erhalten. Endlich, muß man sagen. Denn auf den Vorschlagslisten stand sie lange schon. Sie galt als favorisiert.“2
Abb. 1: Günter Grass bei seiner Nobelpreisrede am 7.12.1999
© Günter und Ute Grass Stiftung, Lübeck, und Steidl Verlag, Göttingen
Zwischen diesen zwei Auftritten vor der Schwedischen Akademie findet noch eine dritte Ehrung statt, die der Öffentlichkeit bisher nicht ebenso bekannt sein dürfte wie die ersten beiden: Am 2. März 1996 wird Günter Grass in Frankfurt am Main, und in feierlichem Ernst, zum ersten Ehrenmitglied des Vereins der Rattenliebhaber und -züchter in Deutschland e.V. ernannt. Dieser 1993 gegründete Verein ist die älteste und größte Organisation von Rattenliebhabern in Deutschland; eines der zentralen Ziele ist es, „in der Öffentlichkeit über Ratten aufzuklären und Vorurteile abzubauen“.3 Das neue Ehrenmitglied begrüßend, heißt es in der Vereinszeitschrift RattGeber: „Wir freuen uns sehr, daß Herr Grass nunmehr auch offiziell zu uns gefunden hat. Geistig war er wohl schon immer mit uns verbunden und wir mit ihm. Sein Roman ‚Die Rättin‘ steht wohl bei den meisten unserer Mitglieder im Bücherschrank.“4
Im Göttinger Günter Grass-Archiv findet sich die auf den 2. März 1996 datierte gerahmte Ehrenurkunde des VdRD e.V. Aus ihr geht hervor, dass Grass diese Würdigung aufgrund sei-ner „außerordentlichen Verdienste“ für die Gattung Ratte zuteilwurde:
Herr Günter Grass hat durch sein künstlerisches und literarisches Schaffen, vor allem aber durch seinen Roman ‚Die Rättin‘, in ganz besonderer Weise dazu beigetragen, Vorurteile über Ratten abzubauen und die Öffentlichkeit aufzuklären, wie es in der Satzung des VdRD e.V. festgelegt wurde.
Abb. 2: Ehrenurkunde des VdRD e.V. für Günter Grass, im Göttinger Grass-Archiv archiviert unter der Signatur Cod. Ms. Grass-Archiv R D 3.
In der Tat unternimmt Grass’ Roman einige Anstrengungen, die Lesenden über Ratten aufzuklären. Das Erstaunliche an der Rättin ist jedoch nicht allein die Tatsache, dass die Vorurteile gegenüber Ratten infrage gestellt werden. Erstaunlich ist auch, wie der Text das tut: Er lässt die Ratten selbst sprechen, verleiht dem Rattengeschlecht eine Stimme, indem er eine auserwählte Rättin zur Binnenerzählerin macht, deren Reden der menschliche Ich-Erzähler lauscht:
Mal plappert sie leichthin, als müsse auf Rattenwelsch, in dem viel Tratsch zischelt, die Welt samt Kleinkram verplaudert werden, dann wieder fistelt sie belehrend, indem sie mich in die Schule nimmt, mir rattig geschichtsläufige Lektionen erteilt; schließlich spricht sie endgültig, als habe sie Luthers Bibel […] gefressen.5
Es ist die Rättin selbst, die – den Ich-Erzähler unterbrechend, mehr und mehr über ihn hinwegredend und ihn besserwisserisch übertönend – auf die Fehlerhaftigkeit des menschlichen Rattenbildes aufmerksam macht. Die Ratten sind, diesen Nachweis führt sie mit rhetorischer Verve, eine mit außerordentlichem Kunstsinn ausgestattete Gattung, musikalisch und selbstverständlich sehr belesen, ja sogar bibelfest und mit „leserattiger Phantasie“6 begabt. Damit nicht genug, verdanken die Menschen gewissermaßen ihre Existenz den Ratten, da diese dem Aussterben der Dinosaurier nachgeholfen und damit „Platz geschaffen [haben] für neues, nicht mehr monströses Leben“ – „auch der Mensch ließ sich auf unsereins, die ersten Säuger, zurückführen“, so erzählt es die Rättin. Die Ratten sind es, die – dank ihrem über Generationen weitergegebenen Wissen und ihrem „gewitzten Gedächtnis“ – den selbstverschuldeten Untergang der Menschheit voraussehen, und wiederholt versuchen, sie zu warnen. Und sie sind es auch, die nach dem Aussterben der Menschen die Erinnerung an sie bewahren und die Denkmalpflege des zurückbleibenden Kulturguts betreiben werden.
Es ist also offensichtlich, dass die abgrundtiefe Abneigung, die die Menschen den Ratten entgegenbringen, nicht im Geringsten auf Gegenseitigkeit beruht, dass vielmehr die Ratten „seit Rattengedenken den Menschen zugetan“ sind.8 Verblendet von den tief verwurzelten Vorurteilen haben die Menschen bisher noch nicht wahrgenommen, wie viel sie den Ratten zu danken haben.
Ob mit diesen Ausführungen der Rättin tatsächlich die Öffentlichkeit über Ratten aufgeklärt wird – wie das die Satzung des VdRD e.V. fordert –, bleibt jedoch fraglich, denn dass sie eine unvoreingenommene, glaubwürdige Erzählerin ist, lässt sich nicht gerade behaupten.
Abb. 3: Die Rättin, 1985
© Günter und Ute Grass Stiftung, Lübeck, und Steidl Verlag, Göttingen
Abb. 4: Aufrechte Ratte, 1984
© Günter und Ute Grass Stiftung, Lübeck, und Steidl Verlag, Göttingen, und Dirk Reinartz
Allein darum aber, dass Grass in seinem Werk das Geschlecht der Ratten selbst sprechen lässt und ihm so die Möglichkeit gibt, die Vorurteile der Menschen zu unterlaufen, ist er ein würdiges Ehrenmitglied für den Verein von Rattenliebhabern. Und selbstverständlich ist er es auch seiner Laudatio vor dem Nobelkomitee wegen: Er preist die Gattung Ratte „zeilenlang und in Bildern gestrichelt“9 und erkennt sie liebevoll als „des Menschen enggefügte Fußnoten, seinen auswuchernden Kommentar“10.
In der Vereinszeitschrift RattGeber wird im Sommer 1996, kurz nach Grass’ Auszeichnung, sogar ein Interview mit dem neuen Ehrenmitglied abgedruckt – ein Interview besonderer Art. Denn keine der Fragen brauchte Grass persönlich zu beantworten; auch dies hatte ihm sein Roman bereits abgenommen: Die Antworten zitieren den Ich-Erzähler der Rättin.
R. Ratz: Sehr geehrter Herr Grass, es ist uns bekannt, daß Sie „als Herr Mitte Fünfzig“ sich auf Weihnachten eine Ratte gewünscht haben. Warum gerade auf Weihnachten?
G. Grass: Satt und bedürftig hieß mein Zustand, als ich mir, nach Wünschen befragt, auf Weihnachten eine Ratte wünschte. Eine weibliche sollte es sein.
R. Ratz: Wie haben Sie das Tier genannt?
G. Grass: Meine Weihnachtsratte. Wie anders soll ich sie nennen.
R. Ratz: Wie brachten Sie das Tier unter?
G. Grass: Nicht etwa zur Seite gerückt, nein, von Tannenzweigen überdacht, hatte, mehr lang als breit, ein Drahtkäfig Platz gefunden, dessen Gitterstäbe weiß lackiert sind und dessen Innenraum mit einem hölzernen Häuschen, der Saugflasche und dem Futternapf möbliert ist.
R. Ratz: Eine schöne Unterkunft für das Tier. Haben Sie Einstreu verwendet?
G. Grass. Huschig raschelte sie im Streu aus gelockten Hobelspänen. Und wie versprochen, bekommt meine Weihnachtsratte wöchentlich pünktlich frische Streu.
R. Ratz: Manche Menschen haben eine Abneigung gegen den Rattenschwanz. Was waren Ihre Gefühle?
G. Grass: Von Anbeginn war erstaunlich, wie nackt ihr Schwanz lang und daß sie fünffingrig ist wie der Mensch.
R. Ratz: Unwissende meinen, Ratten wären schmutzige Tiere, was meinen Sie?
G. Grass: Ein sauberes Tier. Hier und dort: nur wenige Rattenköttel kleinfingernagellang.
R. Ratz: Wir Rattenliebhaber schauen unseren Tieren gern zu, wenn sie an einem Maiskörnchen oder ähnlichem knabbern, rührt Sie das ebenso an?
G. Grass: feingegliederte Krallenhändchen, wie von einem Sehnen ergriffen, mit ihren rosa Zehen, die feingegliedert den Nußkern, die Apfelscheibe oder gepreßtes Spezialfutter halten.
R. Ratz: Geben Sie der Rättin besondere Leckerbissen?
G. Grass: Anfangs ängstlich auf meine Fingerkuppen bedacht, beginne ich sie zu verwöhnen: mit Rosinen, Käsebröcklein, dem Gelben vom Ei.
R. Ratz: Ratten freuen sich sehr, wenn wir mit ihnen sprechen. Haben Sie das auch bemerkt?
G. Grass: (Lachend) Nicht mehr ich rede, sie spricht auf mich ein.
R. Ratz: Und wie hört sie zu, wenn Sie ihr Geschichten erzählen oder wenn Besuch kommt?
G. Grass: In gleichbleibender Haltung, mit angelegten Ohrmuscheln und immerfort spielenden Witterhaaren, die Augen wie Glasperlen blank…
R. Ratz: Ja, ja, – zu niedlich, unsere Tiere! Ratten hören gern Musik und sind auch sonst an vielem interessiert. Wie ist das bei Ihrem Tier?
G. Grass: Sie ist schläfrig tagsüber und rollt sich ein. Doch hört sie gern mit mir das Dritte Programm.
R. Ratz: Meinen Sie damit außer Musik auch politische Nachrichten?
G. Grass: Am liebsten hört meine Weihnachtsratte immer noch Schulfunk für alle. Gestern wurde zwischen Steuer, Gebühren und anderen Abgaben unterschieden. Von historischen Lasten, etwa vom Zehnten war in einem Hörbild die Rede…
R. Ratz: […] Herr Grass, ganz besonders interessiert unsere Mitglieder Ihre Meinung zu Tierversuchen, von denen, wir wissen es beide, unsere Lieblinge ja ganz besonders betroffen sind.
G. Grass: Es fiel der Wissenschaft nicht leicht, den Protesten der Tierschützer standzuhalten; doch waren ihre Versuche kein Selbstzweck, vielmehr einträglich…
R. Ratz: Einträglich? Meinen Sie, es geht der Wissenschaft gar nicht so sehr um den Menschen, sondern vor allem ums Geld?
G. Grass: Wußten Sie übrigens, daß die Zuchtlaboratorien in Wilmigton, Delaware ihren Welthandel im letzten Jahr mit achtzehn Millionen Laborratten per anno und einem Gewinn von dreißig Millionen Dollar beziffert haben?
R. Ratz: Schauderhaft – es graust einem vor solcher „Wissenschaft“. Wir wissen jetzt, wo Sie stehen, Danke, Herr Grass. Ein weiteres Thema ist Hameln für uns. Auf Ostern planen wir eine Fahrt in diese Stadt. Wir haben Zweifel an der Geschichte…
G. Grass: Da wollen wir hin. Dort sollen der alten Lügengeschichte einige Wurzelb gestochen werden. Das sind wir uns schuldig. Denn soviel steht fest: vor siebenhundert Jahren und in den Jahrhunderten danach war von Ratten und einem Rattenfänger auf keinem Papier die Rede. Von einem Pfeifer nur wurde berichtet, der „am dage Joanis et Pauli“ an die hundertdreißig Kinder aus der Stadt weg in einen Berg hinein oder über alle Berge davongeführt haben soll, ohne daß eines der Kinder zurückfand.
R. Ratz: Toll, daß Sie mitkommen wollen! Es wäre schön, wenn wir, nicht zu oft, grad wie es Ihre Zeit erlaubt, vielleicht einmal im Jahr, an Ihren Gedanken teilhaben dürften und diese im RattGeber lesen könnten.
G. Grass: Nach Rattenart sollte alles geteilt werden; es war ja die Ratte, als wir Menschen noch unseren Vorteil suchten, als teilende Gattung bekannt, ohne daß sie uns beispielhaft wurde.
R. Ratz: Wir freuen uns darauf. Eine Frage zum Schluß. Was ist Ihre Meinung zum VdRD e.V. und seinen Zielen?
G. Grass: Hoffnung kam auf: es könnte der Mensch ihn rettender Einsichten fähig werden.
R. Ratz: Vielen Dank für das ausführliche Gespräch. Wir hoffen sehr, daß Sie sich bei uns wohlfühlen.11
Die Ehrenurkunde des Vereins der Rattenliebhaber und -züchter in Deutschland e.V. ist eine der ungewöhnlichsten Würdigungen des Grass’schen Werkes nicht nur im Göttinger Günter Grass-Archiv – und angesichts der „leserattigen Phantasien“ des Geehrten zweifellos wohlverdient.
Abb. 5: Leseratte I, 1985
© Günter und Ute Grass Stiftung, Lübeck, und Steidl Verlag, Göttingen
1 Günter Grass: Die Rättin. Darmstadt 1986, S. 190ff.
2 Günter Grass: Fortsetzung folgt… In: ders. / Gerhard Steidl: Stockholm. Der Literaturnobelpreis für Günter Grass. Ein Tagebuch mit Fotos von Gerhard Steidl. Göttingen 2000, S. 37–50, hier S. 37.
3 Der VdRD e.V. stellt sich vor. Webseite des Vereins der Rattenliebhaber und -züchter in Deutschland e.V.
4 Dieter Martin: Willkommen, Günter Grass! Ein fiktives Vorstellungsinterview. In: RattGeber. Zeitschrift des Vereins der Rattenliebhaber und -züchter in Deutschland e.V. 17 (1996), S. 29–31, hier S. 29. Dem Verein der Rattenliebhaber und -züchter in Deutschland e.V. sei an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt für das Zusenden des Interviews.
5 Grass: Die Rättin, S. 14.
6 Ebd., S. 209.
7 Ebd., S. 28.
8 Ebd., S. 75.
9 Ebd., S. 186.
10 Ebd., S. 13.
11 Martin: Willkommen, Günter Grass! Ein fiktives Vorstellungsinterview, S. 29–31.