Elektronendichtebestimmung aus hochaufgelösten Röntgenbeugungsdaten
Die experimentelle Elektronendichtebestimmung[1,2] ist nicht nur eine besonders genaue und deshalb aufwendige Methode der Strukturbestimmung aus Beugungsexperimenten, sondern eröffnet einen umfassenden Zugang zu Struktur-/Eigenschaftsbezieh- ungen. In der Routinestrukturdiskussion ist man auf den Vergleich geometrischer Parameter (Bindungslängen, Konformation, H-Brückenbindungsnetzwerke, usw.) innerhalb einer Verbindungs- klasse angewiesen und muss indirekt die Reaktivität oder Materialeigenschaften einer neuen Verbindung aus dem Pool bekannter Strukturen extrapolieren. Hier wird das Strukturmodell bestehend aus neun Parametern pro Atom, (den drei Orts- koordinaten der Atomposition und den sechs Parametern für das Auslenkungsellipsoid) an die Beugungsdaten angepasst. Die Atome werden als unabhängig voneinander aufgefasst (Indepen- dent Atom Model, IAM). Die bestimmte Atomposition und die zugehörigen Auslenkungsparameter können dabei lediglich die richtige Atomsorte auf dem korrekten Gitterplatz mit dem richtigen Besetzungsfaktor beschreiben, nicht aber den interatomaren Raum.
In diesem Bereich wird jedoch die für den Chemiker wichtigste Eigenschaft der Stoffe ausgebildet, die chemische Bindung. Sie lässt sich nur durch ein detaillierteres Strukturmodell beschreiben, dem Multipolmodell (MM)[3]. Dabei wird die Gesamtelektronen- dichte mit Kugelflächenfunktionen, den sogenannten Multipolen beschrieben. So kann etwa ein Dipol entlang der Bindung die Bindungselektronendichte beschreiben (Abb. 1). Während also die Residualdichte eines IAM wegen der fehlenden Modellierungs- möglichkeiten immer Maxima auf den Bindungen zeigt, beschreibt das Modell einer Multipolverfeinerung die Gesamtelektronen- dichteverteilung deutlich besser. Die Residualdichteverteilung ist dann niedrig und weist keine systematische Strukturierung auf (Abb. 2).
Die so modellierte Elektronendichteverteilung kann nach Baders quantenmechanischer Theorie der Atome in Molekülen[4] (QTAIM) analysiert werden und liefert neben dem interatomaren Abstand weitere wichtige Kenngrößen einer Bindung. Im Rahmen dieser Theorie besteht dann eine Bindung, wenn die Dichteverteilung zwischen zwei benachbarten Atomen einen Sattelpunkt ausbildet, den sogenannten bindungskritischen Punkt (Bond Critical Point, BCP). Die Atome sind durch einen Pfad der höchsten lokalen Elektronendichte, der demnach durch den BCP verläuft, verbunden. Dies ist der Bindungspfad. Eine Bindung im Bader‘schen Sinne ist also nicht notwendigerweise eine gerade Linie, sondern kann einen gekrümmten Verlauf nehmen ("bent bonds"). Die Bindungs- pfade ergeben somit die Konnektivitäten im Molekül. Die Elektronendichte kann entlang des Pfades quantifiziert werden. Dies liefert ein detaillierteres Bild der Bindungsverhältnisse. So lässt sich z. B. die Bindungsordnung in homoatomaren Bindungen auf die Dichteakkumulation am BCP skalieren. Ist darüber hinaus die Laplacefunktion, also die zweite Ortsableitung der Elektronen- dichte (∇2ρ(r)), am BCP negativ, so liegt eine kovalente Bindung vor. Ist sie positiv, so handelt es sich um eine ionogene Bindung. Maxima in der negativen Laplacefunktion der Elektronendichte geben Valenzschalenladungskonzentrationen (Valence Shell Charge Concentration, VSCC) wieder. Liegen diese Maxima außerhalb der Bindungsregion, so sind sie chemisch identisch mit der Lage freier Elektronenpaare (Abb. 3).
Anzahl und Anordnung der VSCCs erlauben somit Rückschlüsse auf die Hybridisierung der Atome. Weiterhin kann das elektrostatische Potenzial von Molekülen bestimmt und damit der wahrscheinlichste Ort für einen elektrophilen oder nukleophilen Angriff identifiziert werden. Das elektrostatische Potenzial ist neben dem Schlüssel-Schloss-Prinzip eines der wichtigsten Erkennungs- merkmale eines Rezeptors für ein Wirkstoffmolekül (Abb. 4).
Somit gibt die experimentell bestimmte Elektronendichteverteilung Antworten auf ganz grundsätzliche Fragen der Chemie [5]: Liegt trotz der Nähe von Atomen überhaupt eine Bindung vor? In welchem Maß ist eine Bindung kovalent oder polar? Hat die Bindung Mehrfachbindungscharakter? Wie muss ein Wirkstoff- molekül gestaltet werden um von einem Rezeptor erkannt zu werden? Wie beeinflusst die Packung im Kristall die Material- eigenschaften? Welchen Beitrag haben schwache Wechsel- wirkungen auf makroskopische Eigenschaften wie Leitfähigkeit, Farbigkeit, magnetisches oder photochemisches Verhalten?
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[1] H. Ott, D. Stalke Nachr. Chem. 2008, 56, 131.
[2] D. Stalke Chem. Eur. J. (Concept) 2011, 17, 9264.
[3] P. Coppens X-ray Charge Density and Chemical Bonding, IUCr Oxford University Press, 1997.
[4] R. F. W. Bader Atoms in Molecules - A Quantum Theory, Oxford University Press, New York, 1990.
[5] U. Flierler, D. Stalke, L. J. Farrugia Chemical Information from Charge Density Studies in Modern Charge Density Analysis, eds. Carlo Gatti, Piero Macchi, Springer, Heidelberg, London, New York, 2012, 435-467.