Blauer Samt und alte Schokolade. Ein Einblick in die Feierlichkeiten zur Nobelpreisverleihung 1999
Von Max Rauser
Neben den vielen Typoskripten und Notizzetteln im Göttinger Grass-Archiv stechen auch einige von der Buchgestaltung unabhängige Objekte ins Auge. Eines davon ist eine riemenlose Tasche, die in Größe und Format ungefähr einem DIN-A3-Blatt entspricht. Günter Grass muss sie im Zuge der Zeremonien zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur erhalten haben. Alfred Nobels Porträt im Profil und der Schriftzug „Nobelpriset“ sind in goldener Farbe auf die vordere Seite gedruckt.
Abb. 1: Die Nobelpreistasche
Foto: Max Rauser
Der Nobelpreis wurde Grass 1999 dafür verliehen, dass er in seinen „ausgelassen-dunklen Märchen die vergessene Seite der Geschichte“ beleuchte1. Es war die erste Vergabe an einen deutschsprachigen Schriftsteller nach 18 Jahren.
Obwohl der Ständige Sekretär der Schwedischen Akademie, Horace Engdahl, in seiner Laudatio auf Grass dessen Debütroman besonders lobte – „Das Erscheinen der Blechtrommel bedeutete die Wiedergeburt des deutschen Romans des zwanzigsten Jahrhunderts“2 –, erhielt Grass den Nobelpreis ausdrücklich für sein gesamtes Werk. Er selbst betonte in seiner Preisrede Fortsetzung folgt… die Wichtigkeit beständigen Weiter-Erzählens. Seine Aufgabe als Schriftsteller sei es, sich mithilfe der Literatur kontinuierlich in das politische Zeitgeschehen einzumischen.3
Abb. 2: Die Tasche mit Namensschild, Schokoladentalern und Ansteckern
Foto: Max Rauser
Die flache Tasche besteht aus Lederimitat und blauem Samt, die Vorder- und Rückseite sind von innen mit Pappe verstärkt. Vielleicht war sie dafür gedacht, in ihr die Nobelpreis-Urkunde für den Transport zu verstauen, vielleicht gehörte sie aber auch zum feierlichen Bankett der Nobelstiftung am Abend nach der Preisverleihung. In der Tasche befinden sich nämlich neben einigen Ansteckern – darunter ein Namensschild mit der Aufschrift „Dr. Günter Grass – Literature“ – auch Schokoladentaler, die wie Nobelmedaillen geprägt sind. Ahmed Zewail, der Preisträger für Chemie im selben Jahr, zog, während er seine Tischrede mit einer Ausdeutung der Medaillenrückseite begann, einen solchen Schokoladentaler wie zur besseren Anschaulichkeit aus seiner Jacketttasche, stellte aber zur Erheiterung des Saales eilig klar, worauf er sich wirklich bezog: „Not this chocolate one – the real one!“4
Abb. 3: Zwei Schokoladentaler als Medaillen-Attrappen
Foto: Max Rauser
Wie man auf einer Fotografie von Grass’ Verleger Gerhard Steidl im Buch Stockholm – Der Literaturnobelpreis für Günter Grass sehen kann, lagen die Nobel-Taler auf den Banketttischen aus.5 Da Essen und Kochen in Grass’ Werken seit jeher eine wichtige Rolle spielen – von den Aalen in der Blechtrommel (1959) bis zu den gebrannten Mandeln in Vonne Endlichkait (2015) – überrascht es nicht, dass sich die Schokoladentaler nun im Göttinger Archiv neben gleich mehreren Exemplaren der Menükarte des Nobelbanketts wiederfinden. Zusammen mit der Tasche, Programmheften, Terminplänen und Sitzordnungen verschiedener Veranstaltungen erlauben sie einen Blick hinter die Kulissen der glamourösen Preisverleihung.
Abb. 4: Günter Grass’ Termine am Tag der Nobelpreisverleihung
Foto: Max Rauser
Abb. 5: Der Banketttisch in Stockholm. Im Hintergrund sind
die Schokoladentaler zu sehen.
© Steidl Verlag
Foto: Gerhard Steidl
1 Die Begründung zur Nobelpreisvergabe an Günter Grass ist auf der internationalen Internetseite des Nobelpreises einsehbar: https://www.nobelprize.org/prizes/literature/1999/summary/. Zuletzt eingesehen am 14.01.2021.
2 Horace Engdahl: "Laudatio auf den Literaturnobelpreisträger Günter Grass". Aus dem Schwedischen übersetzt von Jörg Detlefsen. In: Günter Grass / Gerhard Steidl: Stockholm. Der Literaturnobelpreis für Günter Grass. Ein Tagebuch mit Fotos von Gerhard Steidl. Göttingen 2000, S. 83-86.
3 Günter Grass: "Fortsetzung folgt…". In: Günter Grass / Gerhard Steidl: Stockholm. Der Literaturnobelpreis für Günter Grass. Ein Tagebuch mit Fotos von Gerhard Steidl. Göttingen 2000, S. 37-50.
4 Ahmed Zewails Tischrede ist als Videoaufzeichnung einsehbar auf der internationalen Internetseite des Nobelpreises: https://www.nobelprize.org/prizes/physics/1999/banquet-video/. Zur beschriebenen Situation siehe Minute 06:37-07:00. Zuletzt eingesehen am 14.01.2021.
5 Siehe Abb. 4: Foto von Gerhard Steidl. In: Günter Grass / Gerhard Steidl: Stockholm. Der Literaturnobelpreis für Günter Grass. Ein Tagebuch mit Fotos von Gerhard Steidl. Göttingen 2000, S. 90.