Die Pilzhexe
Die Radierung zur Vorzugsausgabe von Mit Sophie in die Pilze gegangen
Von Jacqueline Gwiasdowski
Die signierte und nummerierte Vorzugsausgabe des von Günter Grass verfassten und mit verschiedenen Drucken ausgestatteten Gedichtzyklus Mit Sophie in die Pilze gegangen wurde im Juni 1987 im Steidl Verlag publiziert. Den Exemplaren beigegeben ist jeweils eine von Grass angefertigte und signierte Radierung mit dem Titel Pilzhexe II. Diese im Werkverzeichnis unter der Nummer R 230 geführte 19,8 x 25 cm große Radierung wurde in einer 100 Abzüge starken Druckauflage 1986 hergestellt und zeigt das Brustbild einer von Gehölz hinterfangenen weiblichen Figur mit markant großer Nase im Profil, deren Haar sich zu einem Pilz ausformt.
Bereits im Jahr 1976 entstand ein bei Giorgio Upiglio in Mailand publiziertes 48-seitiges Kunstbuch, das eine erste Fassung von Mit Sophie in die Pilze gegangen darstellt. Die zunächst als ungebundene, großformatige Original-Lithographien erschienenen Text-Bild-Variationen übersetzt die Ausgabe des Steidl Verlags von 1987 in den modernen Buchdruck und gibt den Grass-Leser*innen mit der Radierung Pilzhexe II zusätzlich ein verspieltes und limitiertes Stück Kunst aus der Grass-Werkstatt bei.
Abb. 1: „Pilzhexe II“, Günter Grass, Radierung zur Vorzugsausgabe von Mit Sophie in die Pilze gegangen, 19,8 cm x 25 cm, 1986. © Günter und Ute Grass Stiftung
Die im Titel des Gedichtbandes genannte Sophie ist eine allen Grass-Leser*innen bereits bekannte Figur, die als eine von neun Köchinnen in Günter Grass’ Werk Der Butt von 1977 eingegangen ist. Im sechsten Kapitel des Romans wird die Geschichte der Köchin und Pilzkennerin Sophie Rotzoll erzählt. Die Handlung des In-die-Pilze-Gehens wird dort neben der tatsächlichen Pilzsuche zu einem philosophischen Exkurs und märchenhaften Spiel des Verlorengehens in den unendlichen Weiten der Wälder. Die Wälder wiederum werden zu einem Ort verklärt, der Kennerschaft und Achtsamkeit fordert, Eigenschaften, welche die Pilzköchin Sophie im Butt innehat.
Abb. 2: Titelblatt zur Vorzugsausgabe von Mit Sophie in die Pilze gegangen, „Mit Sophie in die Pilze gegangen“, Günter Grass, Lithographie, 1976. © Steidl Verlag + Günter und Ute Grass Stiftung
„Sieben Jahre lang gingen wir, während hinter den Wäldern die Revolution stattfand und die Guillotine als humaner Fortschritt gefeiert wurde, in die Pilze und hatten eine schöne Idee. Unter Schirmlingen lagen wir. Entwurzelt lief uns mit lackgrünem Kopf die Stinkmorchel nach. Im Hexenkreis standen Anisegerlinge. Noch wußten wir nicht, was der Fliegenpilz, außer rot leuchten, noch alles kann. Sophie trug einen trichterförmigen Mehlpilz als Hut, dessen handlicher Stiel himmelwärts zeugte und dem Pimmel meines Vaters glich, als er mit offener Hose treppauf zu meiner Mutter stieg, um mich, seinen Sohn Fritz, zu zeugen.“ 1
Abb. 3: Abbildung zur Vorzugsausgabe von Mit Sophie in die Pilze gegangen, S. 8f.: „Wo ist Sophie? Sophie ist in die Pilze gegangen“, Günter Grass, Lithographie, 1976. © Steidl Verlag + Günter und Ute Grass Stiftung
Die Beschreibung der Sophie Rotzoll, die im Roman Der Butt einen ambivalenten Ruf genießt, – obgleich selbsterklärte Jungfrau wird sie doch von allen anderen der Fraternisierung verdächtigt – erinnert stark an die Gestaltung der Radierung Pilzhexe II. Die in Mit Sophie in die Pilze gegangen geschaffene Waldästhetik voller verschiedenartiger Pilze und deren an menschliche Geschlechtsorgane angelehntes Erscheinungsbild, wie es etwa der phallische Hut der Pilzhexe zeigt, sind also auch im Butt wiederzuentdecken. In Grass’ zeichnerischem Werk finden sich diverse, immer ähnlich gestaltete Frauenbilder mit phallischen Pilzhüten, betitelt mal als Sophie, mal als Pilzhexe. Die Kunstfigur Sophie Rotzoll und das künstlerische Motiv der Pilzhexe erscheinen sinnverwandt, mehr noch voneinander hergeleitet.
Abb. 4: Abbildung aus Radierungen und Texte 1972-1982, Nr. 49: „Sophie“, Günter Grass, Radierung, 1974. © Steidl Verlag + Günter und Ute Grass Stiftung
Auch inhaltlich greift Grass auf den Butt zurück und behandelt abermals Themen wie die Schwierigkeiten des neuen Männer- und Frauenbildes, die Krise der Liebe bei gleichzeitiger Sehnsucht nach Geborgenheit und Grassʼ Selbstverständnis als Schriftsteller. Die in Mit Sophie in die Pilze gegangen noch dynamisch-lebendige Waldästhetik erinnert zugleich an Grass’ 1990 folgenden ökologischen Text-Bild-Band Totes Holz, dessen bedeutsame Umwelt- und Achtsamkeitsästhetik vor der Kulisse des Waldes hier bereits gestalterisch präfiguriert scheint.
Abb. 5: Abbildung aus der Vorzugsausgabe von Mit Sophie in die Pilze gegangen, S. 20f.: „Arbeit geteilt“, Günter Grass, Lithographie, 1976. © Steidl Verlag + Günter und Ute Grass Stiftung
In dem Gedichtband Mit Sophie in die Pilze gegangen werden den neun Gedichten (Zum Fürchten, Federn blasen, Arbeit geteilt, Was Vater sah, Helene Migräne, Kot gereimt, Torso weiblich, Gestillt, Mannomann) insgesamt 19 großformatige Abbildungen der Grass’schen Lithographien von Pilzen, Wald und Pilz-Mensch-Mutationen zur Seite gestellt. Sie veranschaulichen dabei als Wort-Bild-Symbionten in organischer Verbindung von Form und Wort den Werkprozess von Grass’ lyrischem Werk, an dessen Anfang oftmals eine Zeichnung stand, in die handgeschriebene Worte als kalligrafisches Element eingesetzt wurden. In einer künstlerischen Synthese aus Wort, Bild und Form gehen dabei gezeichnete und geschriebene Metaphern wechselseitige Beziehungen mit den abgedruckten Gedichten ein. Die Radierung Pilzhexe II reiht sich thematisch in die Abbildungen des Gedichtbandes ein, die ein breites Spektrum verschiedenartiger Pilze und Pilz-Mensch-Mutationen zum Gegenstand haben.
Abb. 6: Abbildung aus der Vorzugsausgabe von Mit Sophie in die Pilze gegangen, S. 17: „Federn blasen“, Günter Grass, Lithographie, 1976. © Steidl Verlag + Günter und Ute Grass Stiftung
Die Steidl-Ausgabe von Mit Sophie in die Pilze gegangen nimmt die Lithographien aus dem 1976 in Mailand gedruckten Kunstbuch wieder auf. Lithographien entstehen mittels einer druckgrafischen Technik, die sich im 20. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute: Mit Lithographiekreide oder -tusche bringt der Künstler seine Zeichnung auf den Druckgrund, den Lithographiestein, auf. Nach einem Ätzverfahren bleibt das Fettbild sichtbar und kann abgedruckt werden. Aufgrund der vielseitigen gestalterischen und technischen Möglichkeiten und einfachen Handhabung des Verfahrens gewinnen die Abbildungen einen zeichnerischen Charakter und genießen doch gleichzeitig alle Vorzüge einer mehrfach reproduzierbaren Druckgrafik.
Abb. 7: Abbildung aus der Vorzugsausgabe von Mit Sophie in die Pilze gegangen, S. 12: „Mit Sophie gingen wir in die Pilze“, Günter Grass, Lithographie, 1976. © Steidl Verlag + Günter und Ute Grass Stiftung
Die Liebhaberausgabe des Steidl Verlags beinhaltet mit der Radierung Pilzhexe II als zusätzliche Beigabe einen signierten und nummerierten Originaldruck. Bei Radierungen handelt es sich um ein Tiefdruckverfahren, bei dem das Motiv auf die mit einem sogenannten Ätzgrund beschichtete metallene Druckplatte gekratzt wird. Ein nachfolgendes Säurebad vertieft die dabei freigelegten Linien. Beim anschließenden Druckverfahren prägt sich der Plattenrand in das Papier ein und hinterlässt damit eine deutliche Spur des künstlerisch-handwerklichen Werkprozesses.
Abb. 8: Abbildung aus Radierungen und Texte 1972-1982, Nr. 99: „Pilzhexe“, Günter Grass, Lithographie, 1980. © Steidl Verlag + Günter und Ute Grass Stiftung.
Nachbestellungen und somit eine Erweiterung der Auflage der Vorzugsausgabe waren nicht vorgesehen. Belegexemplare der Vorzugsausgabe mit der Radierung gelangten 2019 aus dem Steidl Verlag in das Archiv der Günter Grass-Arbeitsstelle in Göttingen und vermitteln einen Eindruck von der Qualität der Grass’schen Kunstbücher.
1 Günter Grass: Der Butt, Göttingen, 1977, S. 454f.