Inklusion und Diversität aus der Perspektive der Didaktik der Geschichte


Wabe Geschichte

Die folgenden Ausführungen basieren auf dem Impulsvortrag von Prof. Dr. Michael Sauer (Didaktik der Geschichte) und der daran anschließenden Diskussion mit den Teilnehmenden des 11. Netzwerktreffens „Diversität in der Lehrer*innenbildung“ am 07.05.2019.


Protokollantin: Delia Hülsmann

Thematisierung von Inklusion und Diversität

Inklusion wird in geschichtsdidaktischen Publikationen vorwiegend für den nicht-gymnasialen Bereich diskutiert. Dabei wird Inklusion insbesondere verstanden als die Beschulung von Schüler*innen mit Behinderung, darüber hinaus aber auch in Bezug auf weitere Diversitätsdimensionen wie soziale Herkunft oder Geschlecht diskutiert.

Der geschichtsdidaktische Diskurs ist im Gegensatz dazu stark gymnasial orientiert. So soll auf Basis des Geschichtsunterrichts Geschichte als Konstrukt verstanden und im Sinne des Quellenparadigmas vor allem über die Arbeit an Quellen Geschichtsbewusstsein erlangt werden. Damit bewegen sich inklusive Überlegungen zwischen diesen elaborierten theoretischen Konzepten und Adressat*innenorientierung. In der Diskussion werden dazu geläufige Prinzipien und Methoden zur Schüler*innenorientierung wie Subjektorientierung, Handlungsorientierung, Gegenwarts- und Lebensweltbezug, Elementarisierung (z. B. Zeitkonzepte), Konkretisierung (z. B. außerschulische Lernorte) und Binnendifferenzierung stärker akzentuiert. Es besteht kein fachspezifisches einheitliches Konzept zu inklusivem Unterricht. Pragmatische Vorschläge, die sich nur auf den nicht-gymnasialen Bereich beziehen, verfolgen inhaltlich und methodisch reduzierte Unterrichtskonzepte, die vor dem Hintergrund des übergeordneten Lernziels des historischen Lernens hinterfragt werden. Gerade das Prinzip der Differenzierung kann aber auch auf den Geschichtsunterricht im Gymnasium in Bezug auf die Lernprozesse aller Schüler*innen übertragen werden.

Neben der Diskussion über Inklusion als Zielkonzeption von Unterricht und der Frage einer möglichen Gestaltung kann Inklusion mit einem Fokus auf Menschen mit Behinderung im Rahmen der disablity history als historisches Thema berücksichtigt werden (vgl. das gleichnamige Heft „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1/2 2019“).

In der aktuellen Diskussion sowie am Standort Göttingen erfährt insbesondere die Diversitätsdimension Sprache für das als „Sprachfach“ verstandene Fach Geschichte große Bedeutung. So werden fachspezifische sprachgebundene Kompetenzen im Geschichtsunterricht zum einen beim Verständnis von Quellen, die zumeist in fremder Gestalt erscheinen, verlangt. Zum anderen sollen Schüler*innen eigene Deutungen von Vergangenheit sprachlich verfassen bzw. fremde Deutungen verstehen und sich mit ihnen auseinandersetzen. Daneben erfordern das Verständnis von fachspezifischen Operatoren und die Produktion davon abhängiger Sprachhandlungsmuster und Textformate wie Schreiben als historische Simulation (fach-)sprachliche Kompetenzen. Neben Bildungs- und Schulsprache sowie der Alltagssprache der Schüler*innen spielen damit auch die Sprache der Quellen und geschichtsspezifische Fachsprache als sprachliche Register im Unterricht eine Rolle.

Um diese unterschiedlichen sprachlichen Kompetenzen nicht implizit vorauszusetzen, sondern die sprachliche Heterogenität von Schüler*innen zu beachten, sollen Studierende generell für die Bedeutung von Sprachbildung im Fachunterricht sensibilisiert werden. In Bezug auf konkrete Maßnahmen für den Geschichtsunterricht können Lernmaterial und Aufgaben sprachsensibel gestaltet bzw. präsentiert werden, wobei Darstellungstexte, Quellen und Aufgaben in den Blick geraten. In Bezug auf Darstellungs- bzw. Verfassertexte bewegt man sich bei der sprachsensiblen Aufbereitung zwischen Sachadäquatheit und Adressatenorientierung. Auf allgemeinsprachlicher Ebene kann die sprachliche Komplexität heruntergesetzt werden und der Text strukturiert präsentiert werden. Fachspezifische Hürden wie Vorausdeutungen, nicht-chronologische Darstellungen und unnötige Begriffsvarianzen sollten vermieden, Fachbegriffe geklärt und historisiert werden (Weiteres zu Begriffslernen und Begriffsarbeit vgl. Sauer 2019).

Sprachliche Anforderungen von Quellen können durch sprachliche Verständnishilfen wie Kontextualisierungen und Worterklärungen vermindert werden. Ob Quellen adressat*innenorientiert zu „barrierefreien Quellen“ in Leichter Sprache umgeschrieben werden dürfen bzw. sollten, kann in Bezug auf den historischen Wert der Quelle hinterfragt werden. So sollten Inhalte, Struktur und Positionen wiedererkennbar bleiben. Bei der Präsentation von Quellen und möglicher sprachlicher Aufbereitung sollten zudem immer die Rahmenbedingungen, insbesondere das Lernziel reflektiert werden.

Mit Aufgaben verbundene sprachbezogene Rezeption und Produktion können durch Erläuterungen der verwendeten Operatoren und intendierten Textsorten, Formulierungshilfen, aber auch systematische Übungen sprachlicher Kompetenzen unterstützt werden. Nicht nur in Bezug auf sprachliche Heterogenität können Aufgaben durch solche, die Sprache unterstützenden Aufgaben, aber auch durch verschiedene weiterführende Aufgaben und Wahlaufgaben differenziert werden, die unterschiedliche Zugänge anbieten und unterschiedliche Lernziele verfolgen.

Curriculare Verankerung von Inklusion und Diversität

Inklusion und Diversität werden in den geschichtsdidaktischen Modulen im Master verhandelt. Im MA-Modul 1: Reflexion und Untersuchung von historischen Lernprozessen können anhand empirischer Zugänge zentrale Fragen auch aus dem Themenbereich Inklusion und Diversität konzeptionell untersucht werden (z. B. Geschichtsunterricht in der multiethnischen Gesellschaft). In den Seminaren zu den MA-Modulen 2/3: Analyse, Planung, Durchführung und Reflexion von Geschichtsunterricht wird insbesondere die Rolle von Sprache im Geschichtsunterricht z. B. in Bezug auf Quellenarbeit praktisch verhandelt.

Diskussionspunkte und offene Fragen

  • Sprachbildung im Geschichtsunterricht

    Möglichkeiten, mit sprachlichen Anforderungen im Geschichtsunterricht umzugehen, bewegen sich, wie auch die Diskussion um Sprache in anderen Fächern zeigt, zwischen einer defensiven Strategie, Anforderungen herabzusetzen, und der offensiven Strategie, sprachbildend zu handeln. Dabei stellen sich immer wieder die Notwendigkeit der Diagnose individueller sprachlicher Fähigkeiten und die Frage nach passender, möglicher Progression des Lernprozesses. Zur Diskussion wird dabei die Möglichkeit einer fachsprachlichen Progression über die Jahrgangsstufen hinweg gestellt, wodurch inhaltliche Themengebiete mit dem Erlernen spezifischer sprachlicher Fähigkeiten gekoppelt wären. Auch dabei stellt sich das Spannungsfeld des fachlichen Anspruchs auf der einen und der Adressat*innenorientierung auf der anderen Seite. Einen weiteren Diskussionspunkt stellt die Fokussierung auf eine sprachliche Ebene bei der Förderung sprachlicher Kompetenzen dar. So zeigt der Fachdiskurs im Moment eine Fokussierung auf Begriffsarbeit, wie auch die Auszeichnung sogenannter Lernbegriffe im Kerncurriculum Niedersachsen zeigt. Neben dieser bedeutsamen Förderung sprachlicher Kompetenz werden jedoch auch auf allen anderen sprachlichen Ebenen Anforderungen an Schüler*innen gestellt. Als übergeordnetes Ziel der Diskussion um sprachliche Kompetenzen wird die Definition Problems um diese als an die Schüler*innen gestellte Anforderungen benannt, um sowohl bei Lehrpersonen als auch bei Studierenden und Lehrenden der Universitäten ein Bewusstsein für die Anforderungen zu schaffen.

  • Elementarisierung als didaktische Modellierung

    Es kann zur Diskussion gestellt werden, inwiefern didaktische Reduktion als Problem konstruiert wird oder als didaktische Modellierung eine Notwendigkeit didaktischen Handelns darstellt. In Bezug auf sprachliche Anforderungen kann exemplarisch der Einsatz von Bildern im Geschichtsunterricht diskutiert werden. Dabei stellt sich jedoch auch die Frage, inwiefern die Arbeit mit und an Bildern tatsächlich eine Reduktion sprachlicher Herausforderungen darstellt.

  • Sprachbildung als Professionalisierungsthema

    Es stellt sich die Frage, inwiefern die Relevanz von Sprachbildung im Fach im Studium insbesondere der Didaktik angelegt werden kann. Dabei kann auch die Bedeutung linguistischen Wissens und Könnens von zukünftigen Lehrpersonen diskutiert werden. Außerdem kann die Frage gestellt werden, welche Kompetenzen auch inhaltlicher Art Lehrpersonen mit dem Anspruch an sprachliche Kompetenzen voraussetzen und wie dies im Studium gerade auf dem Hintergrund von Schulerfahrungen reflektiert werden kann. Eine Schwierigkeit der Professionalisierung stellt die nicht vorhandene Passung fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Schwerpunktsetzung aufgrund unterschiedlicher Generierungspraktiken von Themen und Inhalten dar.



Literatur
Sauer, Michael (2019): Begriffslernen und Begriffsarbeit im Geschichtsunterricht. Frankfurt a.M.: Wochenschau Verlag.
Burschel, Peter; Conelißen; Christoph; Sauer, Michael (Hrsg.) (2019): Disability history. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1/2.