Accouchierhaus: Universitäre Geburtshilfe
Autor Jürgen Schlumbohm gibt Einblicke in die Lebenswelten von Frauen im 18. und 19. Jahrhundert
Der Historiker Prof. Dr. Jürgen Schlumbohm zeichnet die Geschichte der universitären Geburtshilfe am Beispiel des Accouchierhauses in Göttingen nach, der ersten akademischen Entbindungsklinik in Deutschland. Anhand von Tagebüchern der Direktoren Johann Georg Roederer (1751 bis 1763) und Friedrich Benjamin Osiander (1791 bis 1822) geht er auf persönliche Schicksale zumeist unverheiratet schwangerer Frauen ein, die im Göttinger Geburtshospital entbunden wurden.Die Behandlung im Accouchierhaus war für sie oft die einzige Möglichkeit, vor und nach der Geburt versorgt zu werden. So wurde nicht nur für Unterkunft und Verpflegung, sondern auch für die nötige medizinische Betreuung gesorgt. Als Gegenleistung mussten die Schwangeren leichte Arbeiten, wie Spinnen oder Weben verrichten. Darüber hinaus – und das war ihr eigentlicher „Zweck“ – dienten sie und ihre Neugeborenen den Direktoren und ihren Studierenden als lebendiges Anschauungs- und Übungsmaterial. Denn das Ziel der Entbindungsklinik war die Forschung und Perfektionierung der Geburtshilfe. Dafür bildeten die Direktoren Studenten und Hebammen in Gynäkologie und Geburtshilfe aus. Abbildungen mit detaillierten Erklärungen veranschaulichen diese Praxis.
Wie Schlumbohm beschreibt, dienten die Frauen bei Osiander als Objekte, um die Forschung der Geburtshilfe weiterzuentwickeln. Nur selten lässt er die Patientinnen in seinen Tagebucheinträgen selbst zu Wort kommen. In den meisten dieser Fälle zitiert er die Patientinnen mit Worten, wie „bat um Hülfe“ oder „wünschte sehnlich, entbunden zu werden“. Im Mittelpunkt seiner Aufzeichnungen steht hingegen der Hergang der Geburt und der operative Eingriff bei den Geburten. So seien nur etwas mehr als die Hälfte der rund 3.500 Entbindungen zwischen 1791 und 1829 natürliche Geburten gewesen, während in 40 Prozent der Fälle die Zange eingesetzt wurde. Besonders die Weiterentwicklung derselben war Osiander wichtig, generell setzte er sich für operative Eingriffe ein.
Schließlich war es ihm wichtig, dass die Studenten in der Entbindungsanstalt so viel Praxis wie möglich sammeln konnten. Um 1800 seien etwa 30 bis 50 Studenten pro Jahr zum praktischen Unterricht ins Accouchierhaus gekommen. Die Studenten konkurrierten dabei mit Hebammenschülerinnen, die ebenfalls von Osiander ausgebildet wurden. Da teilweise nur zwei oder drei Schwangere gleichzeitig im Accouchierhaus lebten, waren praktische Übungen oft nur begrenzt möglich. Während Hebammenschülerinnen gewöhnlich bei natürlichen Geburten halfen, wurden die männlichen Studenten bei der künstlichen Geburtshilfe eingesetzt.
Von einigen betroffenen Frauen wurden die Untersuchungen und Operationen als entwürdigend empfunden, weil oft mehrere Studenten anwesend waren. Das war auch der Grund, warum viele Frauen solange wie möglich ihre Geburtsschmerzen verheimlichten: die Studenten sollten nicht mehr rechtzeitig die universitäre Klinik erreichen können, um bei der Geburt dabei zu sein. Manche Frauen verließen aus demselben Grund auch kurz vor der Entbindung das Accouchierhaus. Das führte jedoch dazu, dass sie für die Kosten ihres Aufenthalts – etwa einen Taler pro Woche – aufkommen mussten.
Mithilfe zahlreicher Fallbeispiele von Frauen, die die Entbindungsanstalt aufsuchten, verleiht der Autor seiner Publikation Authentizität. Dabei dokumentiert er detailliert die Daten der Patientinnen, wie Name, Alter, Herkunft und Berufsstand, Aufnahme- und Entlassungsdatum, den Geburtstag und Vornamen des Kindes, Name und Ort des Kindsvaters sowie Anmerkungen über Todesfälle und deren Umstände. So gelingt es Schlumbohm, dem Leser einen tiefen Einblick in die Lebenswelten von nicht-privilegierten Frauen im 18. und 19. Jahrhundert zu vermitteln.
Jürgen Schlumbohm, Lebendige Phantome. Ein Entbindungshospital und seine Patientinnen 1751-1830, Wallstein Verlag 2012, ISBN 978-3-8353-1093-3, 34,90 Euro.