Titel des Projekts:
Inklusion und Exklusion als Leitbegriffe einer Theorie moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit
Gegenstand und Fragestellung des Forschungsprojektes
(1) Fragestellung: Im folgenden möchte ich eine Forschungsskizze vorstellen, die einen Analyserahmen für die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung abgeben soll. Im Rahmen meiner Tätigkeit als Postdoktorand am Graduiertenkolleg "Die Zukunft des Europäischen Sozialmodells" möchte ich nach dem einigenden Band, nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner der (west-)europäischen Wohlfahrtsstaaten fragen. Worin besteht die Gemeinsamkeit in der Vielfalt, Mannigfaltigkeit, Polyvalenz der europäischen Wohlfahrtsstaaten. Kann ein Europäisches Sozialmodell identifiziert werden? What is a European Welfare State model? Can we define a European Welfare State model? Is there then a sense in which those welfare states in Europe share common charakteristics that distinguish them from other political economies?
(2) Definition des Gegenstandes: Im folgenden handelt es sich um eine idealtypische Darstellung der Wohlfahrtsstaatsidee und nicht um eine realtypische Beschreibung eines konkreten wohlfahrtsstaatlichen Institutionengefüges. Wohlfahrtsstaaten definieren sich hierbei im Anschluß an T.H. Marshall über die Vergabe unbedingter, universalistischer, sozialer Rechte an alle Staatsbürger. Marshall spricht von der Vorstellung eines "idealen Staatsbürgerstatus" (Marshall 1992: 53): "Alle die diesen (Bürger-)Status innehaben, sind hinsichtlich der Rechte und Pflichten, mit denen der Status verknüpft ist gleich" (Marshall 1992: 53; Hervorhebung von mir, S.H.). Der "liberale" Staatsbürgerstatus, bestehend aus bürgerlichen Freiheits- und politischen Teilnahmerechte wird damit um soziale Teilhaberechte zu einem wohlfahrtsstaatlichen Bürgerstatus erweitert. Die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung zeigt sich "als evolutionäres Moment einer Anreicherung der Staatsbürgerrolle mit sozialen Rechten" (Kaufmann 1997b: 11). Eine solche Bestimmung läßt die institutionellen Formen offen, durch die diese Rechte und Garantien eingelöst werden. Da zwar alle Wohlfahrtsstaaten den Staatsbürgerstatus in dieser Weise erweitert haben, sie sich jedoch bezüglich des Ausmaßes der gewährten sozialen Rechte und deren inhaltlichen Füllung und Ausgestaltung stark unterscheiden, ist diese Definition von Wohlfahrtsstaatlichkeit hinreichend formal und inhaltlich kontingent, um einen Vergleich der europäischen Staaten anzuleiten. "Es gibt kein allgemeines Prinzip, das bestimmt, was dies für Rechte und Pflichten sein werden" (Marshall 1992: 53). Gleiches gilt für die Funktion der sozialen Rechte: Inklusion. Diese ist als politische Idee hinreichend unkonkret formuliert, um mit der Vielfalt realisierter Wohlfahrtsstaatlichkeit kompatibel zu sein. Diesem Wohlfahrtsstaatsverständnis widerspricht nicht die institutionelle Diversität der europäischen Wohlfahrtsstaaten und unterschiedlichsten Akteurskonstellationen, die die länderspezifischen Entwicklungen vorangetrieben haben. Zum anderen ist über die Betonung sozialer Rechte explizit die staatliche, politische Dimension der Wohlfahrtsstaatlichkeit angesprochen - die in der jüngeren Diskussion um ‚welfare-mix‘, Wohlfahrtsgesellschaft, Wohlfahrtspluralismus, plurale Vorsorge (Bulmahn 1998) etc. zunehmend verwässert wird und aus dem Blick gerät - da nur der Staat in der Lage ist Rechte zu vergeben, zu spezifizieren und für ihre Geltung zu sorgen. Folglich ist explizit eine genuin politische Theorie angezeigt.
Hauptthese des Projekts
Den Ausgangspunkt der Analyse bildet die Überzeugung, das Wohlfahrtsstaatlichkeit zwar ein verbindendes Kennzeichen aller (west-)europäischen Nationen ist, die hergebrachte Wohlfahrtsstaatstheorie aber nicht in der Lage ist, dieses einheitsstiftende Strukturmerkmal Europas analytisch einzufangen. Insbesondere die vergleichende Forschung verlegt sich eher darauf, Unterschiede zwischen den Wohlfahrtsstaaten aufzuzeigen und zu erklären. Da weder auf der Ebene der realgesellschaftlichen Entwicklung (z.B. Industrialisierung, Demokratisierung, Modernisierung) ein einheitliches auslösendes Moment ausgemacht werden kann, das die Entwicklung der Wohlfahrtsstaatlichkeit in allen Ländern auf gleiche Weise angestoßen hat, noch auf der Ebene der Akteure (Interessenlagen) und auch nicht auf der institutionellen Ebene die Einheitlichkeit, das einigende Band rekonstruiert werden kann, soll versucht werden, eine allen Wohlfahrtsstaaten zugrundeliegende politische Idee, ihr gemeinsames und minimales normatives Fundament zu extrahieren. Die These hierbei ist, daß die Idee und das normative Gebot der Inklusion - verstanden als die Ermöglichung des Zugangs aller Staatsbürger zu den Teilsystemen der funktional differenzierten, modernen Gesellschaft und mithin die Teilhabe aller an den Leistungen dieser Funktionssysteme - das gemeinsame Band und den kleinsten gemeinsamen Nenner der europäischen Wohlfahrtsstaaten bildet.
Warum Inklusion? Die hier vertretene funktionalistische Wohlfahrtsstaatstheorie leitet Inklusion aus den normativen Postulaten der Freiheit und Gleichheit und gesellschaftsstrukturell aus der funktionalen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche ab. Beide Erklärungskomponenten sind engstens mit der Ausbildung der modernen Gesellschaft verbunden, weshalb Wohlfahrtsstaatlichkeit erst in der Moderne zu einem charakteristischen, gesellschaftlichen Strukturmerkmal avanciert. Der Clou der Argumentation besteht darin, daß das, der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung zugrunde liegende, Inklusionsgebot aus dem normativen Fundament des Liberalismus, aus basalen liberalen Postulaten abgeleitet wird: Nämlich aus dem Postulat der Freiheit und Gleichheit der Menschen. Im Wohlfahrtsstaat erhalten diese Postulate, die das minimalistische moralische Fundament des Liberalismus darstellen, jedoch eine spezifische Ausdeutung: Sie gelten in ihrer Wahrnehmung als sozial voraussetzungsvoll. Die These hierbei ist, daß Wohlfahrtsstaaten den Versuch unternehmen die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß alle Staatsbürger von ihren bürgerlichen und politischen Rechten auch tatsächlich Gebrauch machen können.
Mit dem Übergang zur funktionalen Differenzierung kann Hierarchie nicht mehr länger das zentrale gesellschaftliche Ordnungs- und Integrationsschema bilden. Über ihre Herkunft können die Individuen nicht mehr eindeutig Schichten oder Ständen zugeordnet werden. Damit ist gesellschaftliche Integration, verstanden als "feste Einbindung" der Individuen ausgeschlossen. Die moderne Individualitätssemantik betont gerade die strukturelle Unbestimmtheit des Menschen. Die Ordnung der sozialen Welt wird fortan nicht mehr als hierarchisch strukturiert angesehen, in der jeder Mensch "seinen" Platz innehat. Vielmehr folgt aus den Postulaten der Freiheit und Gleichheit aller, daß alle gesellschaftlichen Funktionssysteme allen Gesellschaftsmitgliedern offenstehen müssen (Inklusionsgebot).
Da das autonome (rücksichtslose) Operieren der Funktionssysteme nicht automatisch, quasi naturwüchsig, Inklusion garantiert, sondern im Gegenteil vielfach Exklusion produziert, bedarf es staatlicher Maßnahmen, um die Lücke zwischen ‚Anspruch und Wirklichkeit‘ der Moderne zu schließen und die Inklusion aller Staatsbürger in die Funktionssysteme zu realisieren. Exklusion wird "durch funktionale Differenzierung erzeugt", ist aber "im Ergebnis mit ihr inkompatibel und untergräbt sie" (Luhmann 1995b: 582). Exklusion produziert "Überflüssige", die es für das ausschließende Funktionssystem im Grunde gar nicht mehr gibt. "Es ist schlicht so, daß manche einfach nicht gebraucht werden" (Dahrendorf 1996b: 16). Die Wirtschaft kann auch ohne sie wachsen, die Demokratie funktioniert ebenfalls ohne sie und für andere Funktionssysteme gilt das gleiche. Wohlfahrtsstaaten erscheinen daher der liberale Staatsbürgerstatus um soziale Rechte ergänzungsbedürftig. Hierbei läßt Inklusion (im Gegensatz zur Integrationsidee) die Autonomie der Funktionssysteme jedoch unberührt, m.a.W.: Wohlfahrtsstaatlichkeit und funktionale Differenzierung der Gesellschaft sind kompatibel, worin die antisozialistische Stoßrichtung der Wohlfahrtsstaaten zum Ausdruck kommt. Zudem erscheinen im Lichte der Inklusionsidee Wohlfahrtsstaaten nicht als kollektive Umverteilungsmaschinerien. In der Terminologie Michael Walzers versuchen sie sich an der Realisation "komplexer Gleichheit" und nicht an der Verwirklichung "einfacher Gleichheit".