SAECULUM. Jahrbuch für Universalgeschichte

72. Jahrgang (2022), 2. Halbband

Cover SAECULUM 2022/02

Skadi Siiri Krause

Die vernachlässigte Tradition demokratischen Denkens

Die Unterscheidung zwischen Republikanismus und Liberalismus oder die denkbare Verschmelzung beider Denkrichtungen, wie sie in der aktuellen Demokratiedebatte diskutiert werden, reichen nicht aus, um den modernen Demokratiebegriff zu bestimmen; ja sie verflachen ihn sogar, weil die dem modernen Demokratiediskurs zugrundeliegende eigene Traditionslinie geleugnet wird. Illustriert wird dies anhand der Debatten in den 1630er- und 1640er-Jahren, als sich sowohl in England als auch in New England die ersten modernen demokratischen Politikansätze entfalteten, die von Republikanern und liberalen Denkern der Zeit heftig bekämpft wurden.


The distinction between republicanism and liberalism or the conceivable fusion of both schools of thought, as discussed in the current debate on democracy, are not sufficient to define the modern concept of democracy; indeed, they even oversimplify it, because they deny the innate line of tradition underlying the modern discourse on democracy. This is illustrated based on the debates in the 1630s and 1640s, when the first modern democratic political approaches unfolded both in England and New England, and were fiercely opposed by the republicans and liberal thinkers of the time.



Tim Weitzel

Kommunikation mit Gott – ein Gegenstand der Geschichtswissenschaften? Überlegungen eines ‚Profanhistorikers‘

Religiöse Akteure kommunizieren nicht nur über Gott, die Heiligen bzw. allgemeiner: die Transzendenz, sondern auch mit diesen transzendenten Entitaten. Wenn diese eigentümliche Kommunikation auch keineswegs für alle Religionen gleichermaßen relevant ist, so ist sie es doch zumindest für das mittelalterliche Christentum. In zahlreichen zeitgenössischen Quellen wird Gott als Kommunikationspartner der Menschen beschrieben bzw. ins Bild gesetzt. Zwar muss sich der Historiker der Frage enthalten, ob jene Kommunikation an sich möglich ist, jedoch kann (und sollte) er zu einer Historisierung der Gott-Mensch-Kommunikation beitragen. Denn obwohl die tradierten Formen von den religiösen Akteuren oftmals als etwas Gottgegebenes dargestellt werden, muss aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive die grundsätzliche Historizität der Gott-Mensch-Kommunikation konstatiert werden: Welche rituelle Praktik, welcher habituelle Gestus oder welche Gefühlslage jeweils als akzeptabel und angemessen gilt, um Gott zu adressieren, entscheidet sich an und verändert sich mit dem historischen Kontext – und ist damit historisch erklärungsbedürftig. Hierzu will der Artikel einen Beitrag leisten, indem er exemplarisch nach historischen Aspekten der Gott-Mensch-Kommunikation im mittelalterlichen Christentum fragt. Es ist die methodische Grundaxiomatik des Beitrags, dass insbesondere die Irritation eine Beobachtungschance für einen derartigen Ansatz darstellt. Denn dort, wo die Kommunikation mit Gott umstritten, ja umkämpft war, wurde die fragliche Kommunikationsform selbst zum Gegenstand von Kommunikation – und lässt sich damit aus kulturwissenschaftlicher Perspektive beobachten.


Religious actors converse not merely about God, the saints, or more generally: transcendence, but also with these transcendent entities. Even though this peculiar kind of communication is by no means equally relevant to all religions, it is at least so for medieval Christianity. In numerous contemporary sources, God is described or pictured as a communication partner of human beings. Although the historian must refrain from asking whether this communication is possible per se, he or she can (and should) contribute to a historicization of divine-human communication. Even though the traditional forms are often presented as something God-given by religious actors, from a cultural studies perspective, the fundamental historicity of divine-human communication must be stated: which ritual practice, which habitual gesture or which emotional state is considered acceptable and appropriate in each case in order to address God is decided on and changes with the historical context – and is thus in need of historical explanation. This article aims to contribute to this explanation by examining historical aspects of divine-human communication in medieval Christianity. It is the article’s basic methodological axiom that irritation represents an observation opportunity for such an approach: wherever communication with God was contested, disputed or even fought over, the form of communication in question became itself the object of communication – and can thus be observed from the perspective of cultural studies.



André Johannes Krischer

Vertragsbruch und Schikane: Konflikte als Medien interkultureller Diplomatie in den anglo-marokkanischen Beziehungen des späten 18. Jahrhunderts

Drohungen, Übergriffe, Gewalt: Für britische und andere europäische Konsuln war Marokko im 18. Jahrhundert eine schwierige Station. Für die Historiker lag die Erklärung dafür bis ins 20. Jahrhundert auf der Hand: Die marokkanischen Sultane waren Despoten, die Konsuln hingegen Versager. Schaut man jedoch genauer hin und nutzt dazu Perspektiven der neuen, akteursorientierten Geschichte der Außenbeziehungen, dann stellt sich die Lage differenzierter dar: Durch Gewalt und Gewaltandrohungen vermittelte der marokkanische Sultan Sidi Mu?ammad ebenso politische Botschaften und Geltungsansprüche wie durch seine fortgesetzten Verletzungen völkerrechtlicher Verträge. Dies wird anhand des Falls des Konsuls James Sampson um 1770 dicht beschrieben. Am bislang wenig untersuchten Beispiel Marokkos schlägt der Beitrag damit vor, (gewaltsame) Konflikte als Medien interkultureller Beziehungen starker zu berücksichtigen als bisher.


Threats, assaults, violence: For British and other European consuls, Morocco was a difficult station in the 18th century. For historians, the explanation for this was obvious until the 20th century: The Moroccan sultans were despots, while the consuls were failures. However, if one looks more closely and uses perspectives from the new, actor- oriented history of foreign relations, the story becomes more complicated: Through violence and threats of violence, the Moroccan Sultan Sidi Mu?ammad conveyed political messages just as much as through his continued violations of international treaties. Based on a thick description of the case of Consul James Sampson around 1770, this messaging is analysed. Using the example of Morocco, which has been little studied so far, the article proposes to take (violent) conflicts into account as media of intercultural relations more than previously.



Andreas Greiner

Staatliches Handeln als Balanceakt. Aushandlung kolonialer Gestaltungsmacht am Beispiel des Karawanenhandels in Deutsch-Ostafrika

Im Zentrum des Beitrags steht der Karawanenverkehr in der Kolonie Deutsch-Ostafrika. Am Beispiel von dessen offizieller Regulierung zwischen den späten 1880er-Jahren und ca. 1906 eruiert der Beitrag die Grenzen kolonialstaatlicher Gestaltungsmacht. Obwohl die frühe Kolonialzeit von einem Anstieg gewalttätiger Auseinandersetzungen entlang wichtiger Handelsstraßen geprägt war, sah die Kolonialverwaltung von einem härteren Vorgehen gegen Handelskarawanen ab und etablierte stattdessen ein Passierschein-System zur Kontrolle des Verkehrs. Die Analyse fragt nach den Hintergründen dieses abwägenden Vorgehens. Mit einem Fokus auf südasiatische Kaufleute und tansanische Lastenträger ergründet sie dabei die vielschichtigen, sich oftmals entgegenstehenden Absichten verschiedener Akteure und Gruppen und macht die Vielfalt von „Co-Autoren“ im politischen Gestaltungsprozess sichtbar. Der Beitrag gibt somit Aufschluss über die begrenzte Handlungsmacht des deutsch-ostafrikanischen Kolonialstaats, indem er aufzeigt, welche inneren wie äußeren Faktoren diesen prägten.


This article provides new insights into the limitations of colonial policymaking in German East Africa, using the regulation of caravan mobility from the late 1880s to c. 1906 as a test case. Despite an increase in violence along many trade routes, the German administration shied away from tightening controls on trade caravans and instead established a system of travel permits. The analysis in this article discusses how this cautious policy came about. Exploring the different agendas of competing actors and groups, including South Asian entrepreneurs and Tanzanian porters, the article highlights the multitude of “co-authors” in policymaking and reveals the challenges the colonial project faced from the inside and the outside of the state apparatus.



Norbert Schindler

Kalabrien – Land zwischen Alltag und Apokalypse. Ein historisch-ethnographischer Reisebericht

Kalabrien ist die ärmste Region Italiens, ein kultureller Schmelztiegel und ein Land der Erdbeben und Vulkane. Jahrhundertelange Fremdherrschaft, Naturkatastrophen und massive Abwanderung prägen seine Geschichte. Das Ergebnis ist die Verstreuung der Kalabresen über die gesamte westliche Welt und eine gewisse Innenwendung ihrer Kultur, der apokalyptische Töne nicht fremd sind. Der Essay sucht sich den kulturellen Widersprüchen einer europäischen Randregion in der experimentellen Form eines historisch-ethnographischen Reiseberichts zu nähern, angeleitet von der methodischen Frage, welche Möglichkeiten eine fünfwöchige Reise bietet, den ‚touristischen Blick‘ zu überschreiten und zu einem ethnographischen Erfahrungsbericht zu verdichten. Das Ziel ist, den kalabrischen Habitus aus einer Zusammenschau seiner sehr verschiedenen Elemente zu erkunden, die von der Natur- über die Herrschaftsgeschichte bis zur mittelalterlichen Geschichtsphilosophie (Joachim von Fiore), moderner Literatur und alltäglichen Überlebenspraktiken reichen. Ausführliche Interviews mit Einheimischen sollen die Spannungen zwischen kalabrischem Selbst- und Fremdbild nachzeichnen. Drei inhaltliche Schwerpunkte gliedern den Aufsatz, die antike griechische Kolonisation der ‚Magna Graecia‘ (Sybaris), die byzantinische Periode (Rossano) und eine nach wie vor von der Mafia (Ndrangheta) bestimmte Gegenwart. Dazwischen liegt jede Menge ungeschriebener Geschichte, doch so erratisch ist eben die Geschichte des Mezzogiorno, die Kontinuität nur in Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft und deren sozialen Riten kennt.


Calabria is the poorest region of Italy, a cultural melting-pot, and a land of earthquakes and volcanoes. Foreign rulership over centuries, natural disasters and massive waves of emigration characterize its history. The results were the dispersion of the Calabrian people all over the western world and a certain turn to inner life accompanied by darker ideas of decline and apocalypse. This essay tries to reconstruct the cultural contradictions of a European borderland, using the experimental form of an historical-anthropological travel account. It is inspired by the methodical question of how to transcend the ‘tourist view’ of a five-week journey for a more profound ethnographic experience. The main subject is the rebuilding of the Calabrian habitus from a synopsis of its very different elements ranging from natural history and the history of sovereignty to medieval philosophy (Joachim of Fiore), modern literature, and everyday survival practices. Comprehensive interviews with local residents trace the tensions between the Calabrian self-image and the perceptions of others. The article focuses on three key aspects: the antique Greek colonisation of ‘Magna Grecia’ (Sybaris), the Byzantine period (Rossano), and the persistance of the Mafia (Ndrangheta) in the present. There is a lot of unwritten history in-between, but it is precisely this erraticism that characterises the history of the Mezzogiorno, which, for centuries, experienced continuity only through the family, kinship, neighborhood, and their social rites.