SAECULUM. Jahrbuch für Universalgeschichte
72. Jahrgang (2022), 1. Halbband
Axel
T. Paul
Einfache Jäger- und Sammlergesellschaften
Gegenstand
des Beitrags ist der Typus einfacher Jäger- und Sammlergesellschaften. Im Fokus
stehen dabei nicht die Vielfalt und jeweiligen Besonderheiten einfacher
Wildbeutersozietäten, sondern deren gemeinsame und allgemeine Merkmale, allen
voran und typenbildend der Verzicht auf systematische Vorratshaltung und die
weitgehende Egalität der Gesellschaftsmitglieder. Im Einzelnen dargestellt
werden ihre Evolution, vor allem aber die Verflechtung und der Formzusammenhang
ihrer materiellen Versorgungsstrategien, ihrer Sozialstruktur und ihres
Weltbilds. Ziel dabei ist weniger die Präsentation neuer Erkenntnisse als
vielmehr eine historisch-elementarsoziologische Systematisierung des
vorhandenen Wissens.
This
article explores the characteristic features of simple hunter-gatherer
societies. It is less interested in the empirical diversity of such foraging
groups and their respective peculiarities than in their shared structural
characteristics. First and foremost, it focuses on how these societies
refrained from systematic stockpiling and on the general equality among their
members. The contribution starts by discussing the evolution of simple
hunter-gatherer societies but concentrates on reconstructing the entanglement
and structural integration of their strategies for subsistence, their social
structure, and worldview. It does not aim at presenting new empirical findings,
but at developing a structural or rather sociologically elementary description
of this type of social organization.
Justus
Cobet
Der sogenannte Aristeas-Brief. Jüdische Geschichte und
Alte Geschichte
Seit
den 1980er-Jahren sind die jüdischen Texte in griechischer Sprache aus dem
Hellenismus zunehmend in den Blick genommen worden. Der Aristeasbrief, die
Legende von der Entstehung der Septuaginta, ist unter ihnen einer der viel
beachteten. In Abwägung bisheriger Forschungsvorschläge frage ich danach, (1)
wie der Text agiert, um Jüdisches und Griechisches miteinander in Beziehung zu
setzen, das notorische Hellenismusproblem, und (2), was wir an Kontexten
ausmachen konnen, ohne dass wir Autor und Text einer bestimmten historischen
Situation zuordnen konnen. (3) Gleichwohl lassen sich die Beobachtungen zu Schlüssen
über den Zeugniswert des Aristeasbriefes zusammenführen. Als Bezugspunkte der
Untersuchung werden eingeführt (a) die Spannung zwischen der Befassung mit jüdischer
Geschichte und der Althistorie als Teil des traditionellen Narrativs; (b) die
Rezeptionsgeschichte der Legende, verwoben mit der Rezeption der jüdischen
Bibel in griechischer Sprache; schließlich (c) ein Seitenblick auf „das
kulturelle Gedächtnis des Abendlands“ (Jan Assmann).
Since
the 1980s, Jewish writings in Greek from the Hellenistic age have been
increasingly studied. The Letter of Aristeas, the legend of the Septuagint, is
among those attracting particular attention. Weighing different
interpretations, I ask (1) how the text operates to bring Jewish and Greek
agendas in relation to each other – the notorious issue of ‘Hellenism’; (2)
what we can find out about contexts, though there is no particular historical
situation to which we can relate the legend. Nevertheless we can (3) bring
together the observations made to come to conclusions about what the Letter
stands for. As points of reference, I introduce (a) the tension between doing
Jewish history and doing Ancient history as part of the traditional narrative;
(b) the reception history of the legend, which is interwined with the reception
of the Greek Jewish Bibel; and finally (c) a side-glance at “the cultural
memory of the Abendland” (Jan Assmann).
Bernadette
Descharmes
Die Unaussprechlichkeit der Liebe. Ehe- und
Gefühlsideale im klassischen Athen
Autoren
wie Aristoteles oder Xenophon betonten stets die funktionalen Aspekte ehelicher
Partnerschaft. Dies bewog die Forschung zu der Annahme, dass im klassischen
Athen die Ehe eine von emotionaler Zuneigung und sexueller Attraktivitat
befreite Nahbeziehung darstellte. Der vorliegende Aufsatz möchte jedoch zeigen,
dass das Fehlen von „Liebesgeschichten“ weniger auf eine emotionale Leerstelle
als vielmehr auf einen selektiven Umgang mit den Quellen sowie auf ein antikes
Ideal emotionaler Zurückhaltung zurückzuführen ist. Dies zeigt sich
schlussendlich an den zahlreichen Quellen, die einen alternativen Diskurs
aufzeigen und Liebe und Erotik als elementare Bestandteile ehelicher
Beziehungen bezeugen.
Authors
such as Aristotle or Xenophon always emphasised the functional aspects of
marital partnership. This has led researchers to assume that in classical
Athens, marriage represented a relationship that was devoid of emotional
affection and sexual attraction. This essay, however, aims to show that the
lack of “love stories” is not so much due to an emotional vacancy. Rather, it
can be traced back to a selective approach to the sources as well as to an
ancient ideal of emotional restraint. This is finally demonstrated by the
numerous sources that reveal an alternative discourse and affirm that love and
eroticism were crucial components of marital relationships.
Frank
Weigelt
Textgeschichte des Korans. Vom Propheten zur Kairoer
Ausgabe
Den
Muslimen gilt der Koran so, wie er überliefert ist, als das unmittelbare Wort
Gottes. Es gibt nur eine einzige schriftliche Textform (rasm),
die von den modernen Druckausgaben genauso bezeugt wird wie von den ältesten
Handschriften. Auch die westliche Koranwissenschaft arbeitet mit diesem
traditionellen Text und nicht mit einer kritischen Ausgabe. Der Artikel gibt
einen Überblick über die Entwicklung und Überlieferung dieses Textes von seiner
Entstehung im 7. Jahrhundert bis zu den modernen Drucken. Dabei werden
traditionell-muslimische und historisch-kritische Sichtweise gegenübergestellt
und kontroverse Standpunkte der westlichen Forschung diskutiert. Ein
Schwerpunkt liegt auf den verschiedenen, von den muslimischen Gelehrten mündlich
überlieferten Rezitationsarten (qirāʾāt). Sie weisen zahlreiche Unterschiede im Detail auf,
beinhalten aber keinerlei Widersprüche, sondern bezeugen alle dieselbe Botschaft.
Hierin sieht die muslimische Tradition einen Beleg für die göttliche Autorität
des zugleich mündlich wie schriftlich überlieferten Textes. Am Schluss steht
die Frage, inwieweit die heutigen Druckausgaben tatsächlich den Wortlaut dessen
wiedergeben, was der Prophet Mohammed seinen Hörern verkündet hat.
Muslims
believe that the Qurʾān is the immediate word of God as revealed to the Prophet
Muḥammad. Through all times, there has only been one written text form (rasm) with
hardly any variants. It is attested in the modern printed editions as well as
in the most ancient manuscripts. Not only pious Muslims, but also western
scholars use this traditional text rather than a critical edition as the basis
of their studies. The article provides an overview of the development and
transmission of the Qurʾānic text from its origin in the 7th century to modern
printings. It contrasts traditional Muslim scholarship with historical-critical
views and discusses controversial viewpoints of Western scholarship. A crucial element
of the transmission of the text is its recitation by heart. Muslim scholars
have authorized several oral versions (qirāʾāt). These exhibit numerous differences in detail but do
not contain any contradictions; rather, they all testify to the same message.
Muslim tradition sees this as proof of the divine authority of the text. By way
of conclusion, the question is addressed to what extent today’s printed
editions actually reflect the wording of what the Prophet Muhammad proclaimed
to his listeners.