SAECULUM. Jahrbuch für Universalgeschichte

71. Jahrgang (2021), 1. Halbband

Cover SAECULUM 2021/1

Beiträge

Roderich Ptak: Wegbereiter für Macau: Der Kreis Xiangshan, seine mutmaßliche Entwicklung und allmähliche Einbettung in den Seehandel (ca. 1000–1500)
Die „westliche“ Wissenschaft hat sich intensiv mit den frühen luso-chinesischen Kontakten befasst und Macau gerne als multikulturelle Niederlassung gesehen, deren wirtschaftlicher Aufstieg in erster Linie vom Auslandshandel abhing. Der vorliegende Aufsatz betrachtet Macaus Hinterland, d.h. den alten Kreis Xiangshan 香山 (heute Zhuhai 珠海 / Zhongshan 中山), zu dem die Macau-Halbinsel und mehrere kleine Inseln gehörten. Dabei geht es um räumliche und demographische Änderungen in der Region und darum, wie diese Prozesse wirtschaftliche und kulturelle Transformationen förderten, und zwar während der Periode 1000 bis 1500. Zudem begünstigten geographische Faktoren Xiangshans ethnische Vielfalt und seine zunehmende Hinwendung zur See. Kurz, Xiangshan ebnete den Aufstieg Macaus; es war eine Art Vorläufer dieses Hafens.

Hole Rößler: Maritime Schöpferkraft. Ein Beitrag zur Ideen- und Kunstgeschichte des Meeres
Durch seine schiere Weite und Tiefe der fortschreitenden „Entzauberung der Welt“ lange Zeit weitgehend entzogen, blieb das Meer einer nimmermüden Phantasie bis in die Moderne Hort und Quell von Wundern, Monstren und Ungeheuern. Bevor diese als Erfindung von Dichtern, Nachrichtenhändlern und Schaustellern oder als Resultat einer überreizten Psyche von Seeleuten abgetan wurden, waren Gelehrte seit der Antike bemüht, ihre Herkunft aus dem Meer und dessen Eigenschaften zu erklären. Weil sie dabei auch die zugrundeliegenden Prinzipien der Entstehung des Neuen zu fassen versuchten, beschrieben ihre Theorien maritimer Schöpferkraft immer auch Prozesse der menschlichen Imagination und Kreativität. Der vorliegende Beitrag untersucht diese Zusammenhänge von Meereskunde und künstlerischer Originalität mit einem besonderen Fokus auf der Frühen Neuzeit.

Hans-Uwe Lammel: Westeuropäische Wahrnehmung von und Vorstellungen über Seuchen in Osteuropa, dem Osmanischen Reich und dem Nahen Osten, 1650 bis 1800
Die bisherige Sicht auf die Ereignisse um die historische Pest im 18. Jahrhundert war geprägt von einer Erfolgsperspektive. Westeuropa schrieb sich den Sieg über eine seit der Mitte des 14. Jahrhunderts existierende epidemische Bedrohung zu. Das Zurruhekommen des Krankheitsgeschehens auf westeuropäischem Territorium erschien den Zeitgenossen als ein Rückzug der Seuche nach Osten, ihr Verbleib in Russland und Polen wurde in dieser Hinsicht gedeutet. Gleichzeitig veränderte sich der Kontakt mit dem Osmanischen Reich, wo die epidemische Herausforderung persistierte. Während die kriegerischen Auseinandersetzungen als abgeschlossen galten, waren beide Seiten nunmehr an einem Austausch von Waren, Wissen und Luxus, an der vertiefenden Kenntnisnahme unterschiedlicher Aspekte differierender Kulturen und Religionen verstärkt interessiert. Während die russische Zarin Katharina II. der ‚Pest‘ vor allem im Gefolge von Kriegshandlungen gegenüber den Osmanen, aber in europäischer Manier entgegentrat (Quarantäne, In- und Exklusionen), erlebten westeuropäische Reisende den osmanischen und levantinischen Umgang mit der ‚Pest‘ aus einer ganz anderen Perspektive. Sie bemerkten eine im Vergleich mit Westeuropa abweichende Herangehensweise an das epidemische Geschehen in den Gebieten, die sie durchreisten. Das betraf nicht nur vor und während der Bedrohung die konkreten Abwehrmaßnahmen, die augenfällig verschiedenartig waren, sondern beinhaltete auch eine andere Verarbeitungsweise der gemachten Erfahrungen vor dem Hintergrund unterschiedlicher kultureller und religiöser Voraussetzungen in der Bevölkerung. Diese in den Reiseberichten wiedergegebenen Beobachtungen und Differenzwahrnehmungen verstärkten die weitere Konfiguration eines westeuropäischen Selbst. Die empfundene geographische Verschiebung von epidemischen Ereignissen einschließlich der damit verbundenen Konfliktpotenziale an die Ränder von Europa, an denen Austausch und Abgrenzung in gleicher Weise fürderhin stattfanden, und eine in neuer Weise perspektivierte westeuropäische Wahrnehmung alles dessen, was jenseits dieser Ränder als epidemische Gefahr weiterhin existierte, verstärkten einen mentalen Prozess, der im Sinne einer Deprovinzialisierung Europas der imaginierten Konstituierung eines eigenständigen, epidemisch beherrschten und gereinigten Raumes diente.

Andreas Bähr: Der Name der Unsterblichkeit. Gottfried Wilhelm Leibniz und Athanasius Kircher
Der Artikel fragt nach den Bedeutungen und Funktionen von Athanasius Kirchers Vornamen in Darstellungen seiner religiösen und wissenschaftlichen Person im 17. Jahrhundert. Der junge Leibniz – wie andere Bewunderer auch – sah in der Etymologie dieses Namens eine Verheißung von Kirchers Unsterblichkeit in der Gelehrtenrepublik, Pater Athanasius selbst dagegen erinnerte sein Name zunächst an den spätantiken Kirchenvater aus Alexandria und dessen Standhaftigkeit in Glaubensdingen. Zugleich war auch Kircher sich der Bedeutungszuschreibung, wie sie von Leibniz angeboten wurde, bewusst. Seine Autobiographie und sein gelehrtes Œuvre proklamieren in vielfältiger Weise die Erfüllung des Programms seines Namens. Der Aufsatz analysiert die Verewigung und Selbstverewigung Kirchers vor dem Hintergrund zeitgenössischer Eigennamentheorien und -konzepte. Er verfolgt seinen Gegenstand bis zu der Zeit, als Leibniz seine Unsterblichkeitsprognose zurückzunehmen begann: als sich abzeichnete, dass er selbst das Zeug zum Universalgelehrten besaß.

Bernd Herrmann: Die Entdeckung der Umwelt. Jakob von Uexkülls Zentralbegriff organismischer Existenz und Weltwahrnehmung
Die Entdeckung der „Umwelt“ durch Jakob von Uexküll (1864–1944) trug entscheidend zur Fundierung des heute selbstverständlichen ökosystemaren Blicks auf das Gesamt der Natur und ihre inneren Zusammenhänge bei. Mit dem Konstrukt „Umwelt“ beschrieb der Entdecker nicht nur ein Raumkonzept, sondern auch das subjektive Welterlebnis eines jeden tierlichen Organismus. Die Idee hat die Biologie außerordentlich befruchtet, wenn auch am Ende in einer ziemlich reduzierten Abwandlung. Die Biologen, die noch bis in die 20er- und 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts profunde humanistisch-philosophische Kenntnisse besaßen, haben seine Vorlage nicht mehr mit ihrem metaphysischen Unterbau aufgenommen. In erster Linie deshalb, weil die Biologie die philosophisch-weltanschaulich geprägten Vorstellungen über das Phänomen „Leben“ hinter sich ließ und zu einer materialistisch-erklärenden Disziplin wurde. Dabei stand Uexkülls Idee einer mechanistisch-materialistischen Wissenschaftsauffassung überhaupt nicht im Wege. Auch die professionellen Philosophen haben sich nicht mehr auf ihn bezogen, am ehesten könnte man noch den gelernten Biologen Helmuth Plessner anführen. Manche, wie Hans Blumenberg, haben ihn nicht verstanden und sich herabsetzend geäußert oder haben, wie Edmund Husserl, das Rad neu erfunden und modifiziert. Die gewaltigste Umdeutung erfuhr die Umweltvorstellung Uexkülls durch die Lebenswissenschaften selbst, die einen erklärungstheoretisch komplexen Ansatz auf messbare Parameter reduzierten und es begünstigten, dass der Begriff zu einem Singularetantum und Synonym für „Natur“ werden konnte. Seitdem wird der Begriff unreflektiert einseitig, ohne Berücksichtigung seiner Homonymie verwendet. Allermeist bedeutet er heute „Umgebung“ bzw. „Milieu“, aber nicht mehr eine individuelle Welterfahrung und Weltvorstellung durch einen sinnlich begabten Organismus, wie es Uexküll beabsichtigte. Er schloss damit eigentlich direkt an das aistheton (das Wahrnehmbare) des Aristoteles an, der sich vorstellte, dass alles Wahrnehmbare durch Prinzipien der Wahrnehmung zu erklären sei, dem ein Wahrnehmungsgehalt (aisthema) zukommt.