Lehrforschungsprojekt „Soziale Reproduktion, Arbeit und Umwelt in der Flugindustrie“


Lehrforschungsprojekt

Flughäfen sind nicht nur technische Infrastrukturen oder kompetitive Umschlagsräume der globalen Warenzirkulation (Addie, 2018). An ihnen kristallisieren und zeigen sich auch verschiedene ökologische und gesellschaftliche Phänomene. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Auseinandersetzung verschiedener Akteur:innen um die Rolle der Flugindustrie als Katalysator der Klimakrise (Luhmann 2010; Baer 2018). Auf den selten betretenen oder befahrenen Zwischenräumen der Rollfelder wachsen zugleich seltene Pflanzenarten wie Orchideen und Kleinvögel nisten dort (Güttler 2023). Fluglärm ist für die Industrie und die Anwohner:innen der Flughäfen allgegenwärtig. Es entstehen Konflikte um die Frage, ob Landebahnen ausgebaut werden sollen vs. der Schaffung von (meist prekären) Arbeitsplätzen (Stephan 2025). Auch das Thema Nationalgrenzen wird über die Grenzkontrollen einerseits und Abschiebeeinrichtungen sowie (umkämpfte) Abschiebeflüge an Flughäfen gesellschaftlich ausgehandelt und sichtbar. Unsichtbar bleiben dagegen häufig die Arbeitsbedingungen der Menschen, die die Reinigung, Wartung, Sicherheit und Abfertigung der immer noch schnellsten zivilen Fortbewegungsmittel ermöglichen. Dazu gehören Mechaniker:innen, Reinigungskräfte, Check-in- und Gepäckverlader:innen, die Flughafenfeuerwehr, die Sicherheitskräfte und die Sozialassistent:innen, die Passagier:innen mit verschiedenen Einschränkungen sicher ins Flugzeug geleiten. Im Vergleich zu Flugbegleiter:innen und Pilot:innen scheint die Rolle des oftmals befristet und/oder teilzeitbeschäftigten Bodenpersonals im Gelingen eines Fluges unsichtbar. Doch die Corona-Pandemie hat alle Arbeitenden in der Industrie getroffen und sie gleichsam sichtbar werden lassen. Während Flughäfen zum Drehkreuz und Katalysator des Virus wurden, waren die Beschäftigten dieser Arbeitsorte der potentiell lebensgefährlichen Erkrankung zunächst schutzlos ausgesetzt (Cufré & Engelhardt, 2024). Zudem wurden Flughäfen von einem Tag auf den anderen auf unbestimmte Zeit geschlossen. Jobverlust und Unterbrechungen in der Erwerbsbiografie waren für viele die Folge.

Im Sommer 2022 hob die Luftfahrt weltweit wieder ab und strebte an, die Umsätze vor der Pandemie wieder zu erreichen (IATA 2024). Doch plötzlich fehlte das Personal, es streikte oder meldete sich krank, denn für viele von ihnen war die Pandemie längst nicht vorbei. Tausende Flüge wurden gestrichen (vgl. Engelhardt 2024).
In unserem Lehrforschungsprojekt setzen wir uns mit verschiedenen Fragen auseinander, die sich mit Arbeit, Umwelt, sozialer Reproduktion, Geschlecht und Konflikten um und in Flughäfen befassen. Dabei untersuchen wir unter anderem die Aktualität von Hochschilds (2006) Analyse der emotionalen Arbeit als Vermarktung und Entfremdung von Gefühlen im Arbeitsprozess. Da ihre Forschung primär auf Beobachtungen und Interviews mit überwiegend weiblichen Flugbegleiter:innen beruhte, eignen sich ihre Überlegungen ideal, um zu untersuchen, wie sich die Anforderungen an emotionale Arbeit angesichts flexibilisierter Low-Cost-Airlines wie Ryanair und EasyJet in der Zeit von Pandemie, Klimakrise und Massentourismus verändert haben.
Das Projekt kooperiert dabei mit António Louçã und Luís Trinidade von der FCSH in Lissabon, Portugal. Dadurch wurde ein Studierendenprojekt ermöglicht, sich mit den Arbeitsbedingungen, der emotionalen Arbeit und der Arbeitszufriedenheit von Beschäftigten an einem portugiesischen Flughafen auseinanderzusetzen.
Zugleich steht das Lehrforschungsprojekt mit António Louçã im Austausch über die biografischen Erforschung von Flughafenbeschäftigten und ihrer Rolle während der Portugiesischen Revolution sowie deren Arbeitsbedingungen zu dieser Zeit.

Im Rahmen des Lehrforschungsprojektes werden die Poster der Studierenden präsentiert. Zum anderen wird ein Heft der SoWi Pro erscheinen, in dem die Forschungsberichte zu den Themenfeldern emotionale Arbeit, Arbeitszufriedenheit, Streiks und Konflikte sowie dem Zugang zur kostenintensiven Ausbildung zum/zur Pilot:in und der Regulierung des Berufs erscheinen. Zusätzlich wird dieses Heft um einen Forschungsbericht zu den historisch-autobiografischen Interviews mit portugiesischen Flughafenbeschäftigten ergänzt.

Literatur

Addie, Jean-Paul (2018): Flying high (in the competitive sky): conceptualizing hte role of airports in global city-regions through 'aero-regionalism'. In: Xuefei Ren und Roger Keil (Hg.): The global cities reader. Second edition. London, New York: Routledge, Taylor & Francis Group (The Routledge Urban Reader Series), S. 176-182.

Baer, Hans A. (2018): Grappling with flying as a driver to climate change: Strategies for critical scholars seeking to contribute to a socio‐ecological revolution. In: Australian J of Anthropology 29 (3), S. 298-315. DOI: 10.1111/taja.12291.

Cufré, Sara; Engelhardt, Anne (2024): Conflicts up in the air: cabin crew resistance in Argentina and Portugal through the lens of the body. In: Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung 13, S. 101-122.

Engelhardt, Anne (2024): Turbulenzen in der Flugindustrie. In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 54 (214), S. 53-74. DOI: 10.32387/prokla.v54i214.2102.

Güttler, Nils (2023): Nach der Natur. Umwelt und Geschichte am Frankfurter Flughafen. Göttingen: Wallstein Verlag (Historische Wissensforschung, Band 24).

Hochschild, Arlie Russell (2006): Das gekaufte Herz. Die Kommerzialisierung der Gefühle. Frankfurt/Main, New York: Campus Verlag.

Luhmann, Hans-Jochen (2010): Der (Flug-)Verkehr nimmt zu - auch in Zeiten des Klimawandels: Wie kommt es zu diesem Paradox? In: Leviathan 38 (4), S. 475-488. DOI: 10.1007/s11578-010-0099-1.

Stephan, Hans-Christian (2024). A Never-Sleeping Region Awakes: The Social Conflicts and Power Resources of the Logistical Restructuring in the Leipzig Region. In: Moving the Social 73.1 (2024), 133-160.