Was ist Finnougristik?
Üblicherweise teilt man die Sprachen der Welt in Sprachfamilien
ein, das heißt, man fasst sie aufgrund von Verwandtschaft zusammen. In
Europa ist die größte Sprachfamilie die indogermanische, zu der die
germanischen, romanischen, slawischen, baltischen und keltischen
Sprachen sowie das Griechische und das Albanische gehören. Mit
deutlichem Abstand dazu steht die zweitgrößte Sprachfamilie, die
finnisch-ugrische, die sich aus dem Ungarischen, Finnischen und
Estnischen sowie zwölf kleineren Sprachen zusammensetzt, die vor allem
in Russland gesprochen werden. Diese Sprachen sind neben den mit ihnen
verknüpften Kulturen der Gegenstand der finnisch-ugrischen Philologie
(oder Finnougristik).
Was ist das Besondere an diesen Sprachen? Und warum sich mit diesen Sprachen und Völkern beschäftigen? Das Besondere an diesen Sprachen ist ihr Aufbau, der agglutinierend,
d.h. anklebend, genannt wird. Dies besagt, dass diese Sprachen für jede
Kategorie (bzw. Funktion) ein eigenes Suffix haben – im Gegensatz zum
Deutschen, wo im Falle von ‘der Häuser’ der Genitiv durch den Artikel
‘der’ und der Plural durch die Endung -er (plus Umlaut) ausgedrückt wird; im Finnischen wäre das talojen, wobei -j- den Plural und -en
den Genitiv ausdrückt. Solche Sprachen können Wörter mit einer Menge
von Endungen bilden, die im Deutschen mit mehreren Wörtern, manchmal
auch mit einem ganzen Satz wiedergegeben werden müssen. Ein Beispiel: talo-i-ssa-ni-ko-s (die Bindestriche trennen die einzelnen Endungen), auf Deutsch ‘in meinen Häusern?’.
Natürlich unterscheiden sich die finnisch-ugrischen Sprachen auch
deutlich im Wortschatz vom Deutschen und den Schulsprachen, was die
Sprachen sehr exotisch wirken lässt. Ist dies für den Erlerner eher eine
Schwierigkeit, so lassen sich aber auch einige Vorteile benennen wie
z.B., dass immer gesprochen wird, wie es geschrieben ist (man vergleiche
dagegen das Englische, z.B. house) oder dass die Sprachen in
aller Regel sehr regelmäßig sind, also nicht so viele Unregelmäßigkeiten
aufweisen wie die uns bekannten Sprachen (z.B. gehen, ging, gegangen oder Vater, Väter).
Die finnisch-ugrischen Sprachen haben in Europa aufgrund ihrer
Sprecherzahl (ca. 20 Mill. Sprecher) auch eine Sonderstellung: Sie sind
immer von indoeuropäischen Sprachen umgeben, sie sind immer in der
Minderheit (z.B. in der EU), die meisten finnisch-ugrischen Völker haben
kein eigenes Staatsgebiet (z.B. das Samische) und sie leben zumeist in
der Peripherie Europas – ausgenommen Ungarn. Dies geht einher mit
deutlichen Unterschieden in der Kultur, der Literatur, der Mentalität
und in den Gebräuchen.
Die Finnougristik beschäftigt sich nicht nur mit diesen Fragen, sondern
auch mit der Geschichte dieser Völker: Woher stammen die Finnougrier?
Wie kommt es dazu, dass die Finnen in Skandinavien und die Ungarn in
Mitteleuropa leben? Auch die Frage, wie man die oftmals nicht offen
sichtbare Verwandtschaft (z.B. zwischen Finnisch und Ungarisch)
ermittelt, ist Gegenstand des Faches. Diese besondere Mischung der
Forschungsfelder, verknüpft mit der Exotik der Sprachen, macht den Reiz
des Studiums der Finnougristik aus.