Titel des Projekts
Nationale Grenzerfahrungen und grenzüberschreitende Prozesse. Eine vergleichende Untersuchung am Beispiel ausgewählter Grenzregionen.
Grenzen bestimmen Zugehörigkeiten und Ausschließungen, sie trennen und verbinden. Was eine Grenze ist, wird erst im Versuch der Überschreitung deutlich. Als gesellschaftliche Konstruktion ist besonders die nationale Grenze in der Diskussion, da sie vor allem innerhalb Europas einem Wandel unterliegt, den die politischen und ökonomischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte auslöste (Niedergang kommunistischer Machtbereich, Binnenmarkt Europa, Schengen-Abkommen, Europäische Osterweiterung, Migrationsdruck, Globalisierung). In dem Promotionsvorhaben „Nationale Grenzerfahrungen und grenzüberschreitende Prozesse. Eine vergleichende Untersuchung am Beispiel ausgewählter Grenzregionen“ wird nach der politischen Funktionsveränderung der nationalen Grenze und den damit verbundenen kulturellen und sozialen Auswirkungen gefragt. Im Vordergrund stehen bei dem qualitativen Forschungsprojekt die Grenzerfahrungen und -wahrnehmungen der Anrainer im Verhältnis zu den Vorstellungen der Experten, Regionalpolitiker, grenzüberschreitenden Unternehmer, Vertreter eines „Europa der Regionen“ und den regionalen Diskursen in Tageszeitungen. Explizit soll die deutsche Seite der Grenze untersucht werden, um in verschiedenen Regionen und Grenzstädten (Zittau an der Grenze zu Polen/Tschechien, Flensburg - Dänemark, Kehl - Frankreich) nach Veränderungen in der Wahrnehmung der nationalen Grenze selbst, den Grenznachbarn, der grenzüberschreitenden Prozesse und der gemeinschaftstiftenden Identität zu fragen. Der Blick auf den Forschungsgegenstand ist soziologisch. In der Tradition soziologischer Perspektiven sind es die sozial Handelnden, die sich ihre Form, ihren sozialen Raum und ihren sozialen Tatbestand schaffen, der als räumliche Manifestation Zwangscharakter hat.
Relevant für die Forschung zu europäischer Integration und neuen Vorstellungen eines grenzüberschreitenden Europas ist, ob sich der Zwang zur Abgrenzung durch die Bedeutungsverschiebung der nationalen Grenze auflöst oder ob es im Gegenteil zunehmende Tendenzen für Grenzbildungsprozesse gibt.
Forschungsleitende These ist die Annahme, daß „Grenze“ historisch als Metapher hergeleitet werden kann, die immer weniger rein räumlich, vielmehr durch mentale Zugehörigkeitskonzepte gedeutet wird. Die Grenzregion wird in diesem Zusammenhang durch ihre besondere Lage zum Testfall für Fragen der interkulturellen Integration, Kommunikation und Offenheit.
Methodisch schließt die Arbeit an soziologische Theorien der Ein- und Ausschließung (Simmel, Luhmann, Bourdieu, Bauman) sowie an angloamerikanische Forschungen (Border Studies) an. Qualitative Interviews, die im Anschluß an Dokumentenanalysen und Inhaltsanalysen von Zeitungen, Programmen u.ä. stattfinden sollen wie die Aufarbeitung wissenschaftlicher Literatur zu Raum, "Region", Grenzüberschreitende Kooperation, Mental Maps und dem historischen Verständnis von Grenzen stellen die Grundlage dar, mit der die Grenze in einer sich verändernden Gesellschaft auf ihre heutige Funktion reflektiert werden kann. Der Vergleich zwischen den Grenzregionen soll möglich machen, verschiedene Grenzverständnisse in verschiedenen regionalen politischen wie kulturellen Kontexten einzuschätzen.
Für ein "Europäisches Sozialmodell" sind Konzepte zu hinterfragen, die an die Diskussion über ein integriertes Europa in politisch und ökonomisch zu bestimmenden Grenzen die Fragen koppeln, wie "vor Ort" sich die regionale Umsetzung europäischer Kooperationskonzepte darstellt, wie die Akzeptanz in der Bevölkerung vorangeschritten ist und welche Widerstände sichtbar sind. Integration war lange an den Nationalstaat und diverse sozialpolitische Maßnahmen und nationale Identitätsvorstellungen gebunden. Ob Grenzen sich auflösen, ob sie ganz im Gegenteil relevanter werden, ist eine offene Frage, deren Beantwortung offene, vergleichende Verfahren benötigt.