Forschung

Dissertationsprojekt

Opfergeschichte(n) – Opfer von deutschen Technikkatastrophen im 20. Jahrhundert in Medien und Gesellschaft
Mit der zunehmenden Technisierung vieler Lebensbereiche veränderten sich zugleich die Dimensionen von Unfällen im Laufe des 20. Jahrhunderts. Die Zahl der potentiellen Verletzten und Toten eines Unfalls stieg mit der Entwicklung immer schnellerer und scheinbar effizienterer Technik. Begreift man Technisierung als Kennzeichen der „modernen“ Welt, ist das Versagen dieser Technik mitsamt seinen Folgen ebenso Kennzeichen und Problem „moderner“ Gesellschaften. Jüngst wurde dies besonders in Bezug auf das Unfallrisiko selbstfahrender Autos diskutiert. Augenfällig wurden die Folgen besonders in den menschlichen Opfern – den Toten, den Verletzten und den trauernden Hinterbliebenen. Die Opfer von Technikkatastrophen und der gesellschaftliche Umgang mit ihnen stehen im Fokus der Dissertation. War der Massenanfall an Toten und Verletzten durch Kriege und Naturkatastrophen zwar nicht unbekannt, stellten sich bei Technikkatastrophen jedoch rasch komplexere Fragen nach Verantwortlichkeiten – waren doch, wenn auch unbeabsichtigt, allein menschliche Fehler in der Wahrnehmung der Zeitgenossen ursächlich für das Unglück. Wie sollte man mit den Opfern solch einer Katastrophe umgehen? Dazu war auch stets auszumachen, wer von den Betroffenen zur Kategorie „Opfer“ zählte.
Der kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Opferschaft und dem Konzept des Opfers kommen in jüngster Zeit erhöhte Aufmerksamkeit zu. Zugleich befindet sich die historische Opferforschung abseits der Studien über die Opfer des Holocausts noch am Anfang. Die kürzlich erschienene Monografie Svenja Goltermanns eröffnet als begriffs- und entwicklungsgeschichtliche Arbeit das Feld für weitere Studien, die, wie die entstehende Arbeit, Medialisierungsprozesse und praxisbezogene Vorgänge stärker in den Blick nehmen. Noch weniger erforscht stellt sich der Bereich der Technikkatastrophen dar. In der historischen Katastrophenforschung standen bislang Naturkatastrophen im Vordergrund.
Zu diesen beiden Forschungsdesideraten leistet die entstehende Arbeit einen Beitrag. Die Dissertation untersucht den medialen, gesellschaftlichen und politischen Umgang mit Opfern von Technikkatastrophen. Dieser findet nicht zuletzt im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und zeitgenössischen Normen und Ethikvorstellungen statt. Des Weiteren nimmt die Arbeit eigene Handlungsspielräume und Subjektivierungsprozesse von Katastrophenopfern in den Blick. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich von der Zeit des Nationalsozialismus bis ans Ende des 20. Jahrhunderts und betrachtet schwerpunktmäßig den deutschen bzw. den bundesrepublikanischen Raum, ohne transnationale Einflüsse aus dem Blick zu lassen. Der Begriff des „Opfers“ wird dabei als veränderliche Zuschreibungskategorie begriffen. Daher werden alle physisch und/oder psychisch betroffenen Personen, die durch die jeweilige Katastrophe in ihrer Lebensführung eingeschränkt wurden, in die Untersuchung mit einbezogen.
Die sich im 20. Jahrhundert ausdifferenzierenden Medien nahmen bei der Aushandlung des Umgangs mit Opfern eine besondere Rolle ein, da sie unterschiedliche Spezial- oder Alltagsdiskurse bündelten und miteinander verschränkten. Diese machten die Medien der Öffentlichkeit, einem potentiell unbegrenzten Publikum, zugänglich. Durch die Beobachtung, Narrativierung und Darstellung der Geschehnisse am Ort der Katastrophe wurde ein öffentliches Wissen über die Opfer und die Katastrophe generiert; sie wurde zu einem diskursiven Ereignis. Zugleich ermöglichte die Medienberichterstattung die Aufnahme verschiedener Positionen von Akteuren in den Diskurs, die erst dadurch Gehör fanden: Seien es sich über das Ereignis äußernde PolitikerInnen, HelferInnen oder im Besonderen die Geschädigten. Die Medien beeinflussten mit ihrer Anwesenheit überdies die Situation vor Ort und den praktischen Umgang mit Opfern. Während Svenja Goltermann die Genese des „unschuldigen“ und „passiven Opfers“ anhand juristischer, politischer und medizinischer Diskurse nachzeichnet, verfolgt die Arbeit unter anderem die These, dass Opfer im Laufe des 20. Jahrhunderts eigene Wirkungsmöglichkeiten entwickeln konnten. Dies ging vor allem aus dem Interesse der Medien hervor, Opfer ins Zentrum ihrer Berichte zu stellen oder sie selbst von den Auswirkungen der Katastrophe erzählen zu lassen. Die Rolle der Medien ist dabei als ambivalent zu betrachten: Waren nicht wenige MedienvertreterInnen auf Sensationen bedacht und bei ihrer Recherche rücksichtslos, reflektierten andere ihr Vorgehen und ihre gesellschaftliche Wirkung. Nicht zuletzt forderten Journalisten einen „gerechten“ Umgang mit Opfern und erinnerten an vorherrschende moralische Grundlagen. Dies wirkte sich auf den verschiedenen Ebenen des Umgangs mit Katastrophenopfern (u.a. auch auf Rettung und Nachsorge) aus. Somit wird die Entwicklung des „erstrebenswerten Opferstatus“ (Goltermann) in ihren medialen und gesellschaftlichen Kontext eingebettet, anstatt ihn nur in wichtigen aber alltagsfernen Diskursen nachzuverfolgen. Gleichwohl muss die Untersuchung in zeitgenössische relevante Kontexte, beispielsweise das Aufkommen des „Traumakonzeptes“, Versicherheitlichungsdebatten oder Terror eingebettet werden.
Der konkrete „Umgang“ mit Opfern konstituiert sich vor allem durch Alltags- und Spezialdiskurse sowie durch Praktiken. Daraus ergibt sich die theoretische Perspektive der Praxis- und der Diskursanalyse für diese Arbeit. So kann erfragt werden, welches Wissen im Umgang mit Opfern als angemessen betrachtet wurde und zum Einsatz kam. Dies gilt nicht nur für den praktisch-medizinischen Umgang mit Toten, Verletzten oder „traumatisierten“ Geschädigten, sondern auch für die journalistische Arbeit in Bezug auf den Einsatz technischer Aufnahme- und Speichermedien.
Fünf Fallstudien dienen in der Arbeit als Sonde. Es handelt sich um die Explosion des LZ 129 „Hindenburg“ im Jahr 1937, um die Kesselwagenexplosion im Ludwigshafener BASF-Werk 1948, die Grubenkatastrophe von Lengede 1963, die sogenannte „Flugtagkatastrophe“ von Ramstein 1988 und das ICE-Unglück von Eschede 1998. Mithilfe der Fallstudien wird jeweils die Situation vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, zu Beginn des Kalten Krieges, zur Zeit des bundesrepublikanischen Wirtschaftswunders, vor dem Ende der Deutschen Teilung und nach der Wiedervereinigung beleuchtet. Durch diesen diachronen Vergleich können Kontinuitäten, Brüche und Wandel sowohl im Hinblick auf Vorstellungen von gesellschaftlich adäquatem Umgang mit Opfern als auch deren Selbstentwürfen sichtbar gemacht werden.
Als Quellen werden Medienerzeugnisse, also Zeitungs-, Hörfunk-, aber auch Fernsehberichte und Internetseiten untersucht. Die Arbeit leistet somit auch einen Beitrag zu einem zentralen Problemfeld der Zeitgeschichte: dem methodisch reflektierten Umgang mit „neuen Medien“. Nicht nur die inhaltliche Analyse, auch die Produktion, Speicherung und Charakteristika der Medien selbst werden berücksichtigt.
Als weitere Quellen stehen Erfahrungs-, Ermittlungs- und Untersuchungsberichte sowie (medizinische und psychologische) Lehrbücher und Aufsätze zur Verfügung, die für die Analyse der Praktiken vor Ort wertvoll sind. Die Arbeit verknüpft verschiedene Quellenarten und zugleich verschiedene Diskurse. Dazu zählen auch kirchliche Quellen sowie Dokumente aus den Bereichen der kommunal-, landes-, oder Bundes- bzw. Reichsregierung.
Insgesamt ist das Projekt an die Schwerpunkte des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen anschlussfähig, erweitert sie um die forschungsaktuelle Perspektive der Opferforschung, reflektiert die Problematik der Einbettung „neuer Medien“ und arbeitet überdies die Geschichte zweier einschneidender niedersächsischer Ereignisse auf.