Titel des Projekts:
Zwei Welten der prekären Beschäftigungsformen: Chile und Deutschland im Vergleich
In den letzten Dekaden fanden große Transformationen in der Weltwirtschaft statt, welche den Arbeitsmarkt sehr verändert haben. Das Normalarbeitsverhältnis, das heißt, eine Vollzeitbeschäftigung von unbefristeter Dauer die sozial abgesichert ist, verliert zunehmend seine Bedeutung, und neue Beschäftigungsformen, die sogenannten "atypischen Beschäftigungsformen", entstehen. Es wird häufig in der Literatur behauptet, daß diese atypischen Beschäftigungsverhältnisse prekär seien. Während es über den Begriff der atypischen Beschäftigungsformen einen relativ breiten Konsens gibt, ist es überhaupt nicht klar, was man unter prekären Beschäftigungsformen versteht. In der Dissertation geht es um einen Versuch, den Begriff "prekäre Beschäftigungsform" zu bestimmen. Dafür werden Chile und Deutschland exemplarisch ausgewählt. Die These der Doktorarbeit lautet: atypische Beschäftigungsformen sind nicht unbedingt prekär.
Fragestellung des Forschungsprojektes:
Atypische Beschäftigungsformen haben sich in der letzten Jahrzehnten in Deutschland vermehrt. Diese unterscheiden sich in dem einen oder anderen Merkmal vom Normalarbeitsverhältnis (stabile, sozial abgesicherte, abhängige Vollzeitbeschäftigung). Atypische Beschäftigungsformen sind nicht per se ein Problem, sondern nur dann, wenn sie prekär werden. Prekäre Beschäftigungsformen können die Existenz nicht sichern, weil sie Einkommensrisiken nicht vorbeugen können. Bei prekären Beschäftigungsformen entstehen verschiedene Arten von Einkommensunsicherheiten: kein geregeltes Einkommen, kein Schutz gegen soziale Risiken wie z.B. Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfall und Alter. Wenn diese Risikofälle bei prekären Beschäftigungsformen eintreten, kann kein Einkommen mehr erzielt werden. Es besteht auch nicht unbedingt eine Absicherung von diesen Risiken durch Tarifverträge oder – auf betrieblicher Ebene – durch Betriebsvereinbarungen.
Prekarität drückt sich dadurch aus, daß dem Erwerbstätigen weniger Rechte zustehen als im Falle eines Normalarbeitsverhältnisses: a) Es besteht gar kein Rechtsschutz. Dies ist der Fall bei der Schwarzarbeit, da kein Vertrag besteht; b) Dem Erwerbstätigen stehen keine Arbeitnehmerrechte zu, weil – obwohl ein Vertrag besteht – statt eines Arbeitsvertrages ein handelsrechtlicher Vertrag abgeschlossen wurde; c) Dem Erwerbstätigen stehen nicht alle Arbeitnehmerrechte zu, weil wegen der Besonderheiten seines Arbeitsvertrages bestimmte Gesetze nicht zur Anwendung kommen. Das Kündigungsschutzgesetz setzt z.B. in § 1 Abschnitt 1 eine mindestens sechsmonatige Beschäftigungsdauer voraus, so daß befristet Beschäftigte unter Umständen nicht erfaßt werden.
Allerdings: Prekär ist nicht gleich prekär. Prekarität ist ein relativer Begriff, der kontextabhängig ist. Prekäre Beschäftigungsformen sehen anders aus in unterschiedlichen sozialpolitischen Kontexten. Ferner bedeutet Prekarität nicht dasselbe für verschiedene Beschäftigungsgruppen: Obwohl viele Beschäftigungsgruppen davon betroffen sind, ist die Art, wie sich Prekarität manifestiert, nicht gleich. Aus diesen Gedanken ergeben sich folgende Thesen:
1. In dieser Studie wird die Hauptthese vertreten, daß Prekarität ein relativer Begriff ist, der kontextabhängig ist: Er manifestiert sich in verschiedener Weise in unterschiedlichen sozialpolitischen Kontexten.
2. In einem bestimmten sozialpolitischen Kontext sind Beschäftigungsgruppen mit hohen und mit niedrigen Qualifikationen anders von Prekarität betroffen
3. Trotz verschiedener sozialpolitische Kontexte bestehen Ähnlichkeiten bezüglich prekärer Beschäftigungsgruppen: Niedrig qualifizierte Beschäftigungsgruppen sind von einer bestimmte Art der Prekarität betroffen, ebenso die hoch qualifizierten Beschäftigungsgruppen.
4. Wenn ein Wandel der Institutionen der Sozialpolitik zustande kommt, ändert sich die Art der Prekarität.
Begründung der Fallauswahl
In der vorliegenden Studie soll die Hauptfrage beantwortet werden, was Prekarität in verschiedenen Kontexten bedeutet. Dafür werden nach dem most different case design zwei kontrastierende Länder im Hinblick auf ihr sozialpolitisches Profil ausgewählt: Chile und Deutschland. Die Sozialpolitik beider Länder wird in ihrer konstitutiven und kompensatorischen Facette gegenübergestellt, d.h. die Ausgestaltung des Arbeitsmarktes einerseits und die Sozialversicherungspolitik andererseits. Hinsichtlich der Ausgestaltung des Arbeitsmarktes weisen die Fälle folgende Unterschiede auf: In Deutschland ist der Arbeitsmarkt hoch reguliert, in Chile dagegen ist der Arbeitsmarkt hoch dereguliert. Bei der Sozialversicherungspolitik ergibt sich das folgende Bild: Deutschland besitzt ein äußerst großzügiges Sozialversicherungssystem. Dagegen ist die chilenische Sozialversicherungspolitik mangelhaft. Als besonderer Bereich des Sozialversicherungssystems wird das Rentensystem gewählt, weil es eine wichtige Rolle für prekäre Beschäftigungsformen spielt. Im deutschen Fall handelt es sich um ein umlagefinanziertes Rentensystem, im chilenischen Fall hingegen um ein kapitalgedecktes. Die (De)Regulierung am Arbeitsmarkt und das Rentensystem werden herangezogen, weil beiden Aspekte eine entscheidende Rolle in der Konfiguration der prekären Beschäftigungsformen spielen.
Methode des Vergleichs
Um die vier oben genannten Thesen zu überprüfen, werden vier Vergleiche gezogen:
Um die erste These zu überprüfen (“Prekarität ist ein kontextabhängiger Begriff”), wird die chilenische und die deutsche Sozialpolitik in ihren zwei bereits erwähnten Facetten verglichen: die Ausgestaltung des Arbeitsmarktes als konstitutive Sozialpolitik und die Versicherungssozialpolitik als kompensatorische Sozialpolitik.
Um die zweite These zu überprüfen (“In einem bestimmten sozialpolitischen Kontext sind Beschäftigungsgruppen mit hohen und mit niedrigen Qualifikationen anders von Prekarität betroffen”), werden zwei Querschnittvergleiche gezogen, jeweils ein Intra-Länder Vergleich. Die zwei ausgewählten Beschäftigungsgruppen (niedrig und hoch qualifizierte) werden im jeweiligen Land zueinander in Kontrast gesetzt. Der Kontrast wird sowohl für Chile als auch für Deutschland ermittelt. Die Fallauswahl der Beschäftigungsgruppen erfolgt nach dem most similar case design, d. h., die Beschäftigungsgruppen, die in Chile und in Deutschland ausgewählt werden, sind so ähnlich wie möglich. Dementsprechend werden das Reinigungsgewerbe in Deutschland und Dienstmädchen in Chile auf der einen Seite, freie Mitarbeiter in Deutschland und eine äquivalente Beschäftigungsgruppe in Chile auf der anderen Seite gegenübergestellt.
Um die dritte These zu überprüfen (“Trotz verschiedener sozialpolitische Kontexte bestehen Ähnlichkeiten bezüglich prekärer Beschäftigungsgruppen: Niedrig qualifizierte Beschäftigungsgruppen sind von einer bestimmten Art der Prekarität betroffen, ebenso die hoch qualifizierten Beschäftigungsgruppen“), werden zwei Querschnittvergleiche gezogen, diesmal Inter-Länder Vergleiche. Dabei wird die niedrig qualifizierte Beschäftigungsgruppe in Chile mit derjenigen in Deutschland verglichen (Dienstmädchen und Reinigungsgewerbe). Ebenso wird mit der hoch qualifizierten Beschäftigungsgruppe verfahren (freie Mitarbeiter in Deutschland und die äquivalente Gruppe in Chile zu den freien Mitarbeitern).
Für die Überprüfung der vierten These („Wenn es einen Wandel der Institutionen der Sozialpolitik gibt, ändert sich die Art der Prekarität“), wird ein Längsschnittvergleich in Chile gezogen. Dieser Längsschnittvergleich soll exemplarisch zeigen, wie sich Prekarität durch einen Wandel der Rahmenbedingungen der Sozialpolitik verändert hat. Bei dem Vergleich sollen beide oben genannte Facetten der Sozialpolitik betrachtet werden. Zum Vergleich werden ein bestimmter Bereich des Arbeitsmarktes und des Sozialversicherungssystems betrachtet, nämlich die Deregulierung am Arbeitsmarkt und das Rentensystem. Diese Bereiche werden ausgewählt, weil dort radikale neoliberale Reformen des Sozialsystems stattgefunden haben (1979 wurde am Arbeitsmarkt eine sehr starke Deregulierung durchgeführt, 1981 fand eine Privatisierung des Rentensystems statt). Daraus ergibt sich ein ex ante und ein ex post Untersuchungsdesign. Sowohl die Deregulierung am Arbeitsmarkt als auch die Rentenreform sind besonders wichtig für die Fragestellung dieser Studie, da sie eine bedeutende Rolle im Hinblick auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse spielen.