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Neuer Mechanismus zur Steuerung plastischer Phasen in Hirnentwicklung

15.06.2015

Neuer molekularer Mechanismus für die Steuerung plastischer Phasen in der Hirnentwicklung entdeckt

(umg/pug) Sehen oder Hören können – das gelingt nur, wenn auch das Gehirn „sehen“ oder „hören“ gelernt hat. Dies muss in bestimmten Zeitfenstern erhöhter Lernfähigkeit (Plastizität), sogenannten „kritischen Phasen“, der Hirnentwicklung passieren. Wie genau diese kritischen Phasen reguliert werden und welche Faktoren zu ihrer Beendigung führen, ist nicht nur von großer Bedeutung für die Grundlagenforschung. Neue Erkenntnisse können möglicherweise langfristig auch zur Entwicklung neuer klinisch relevanter Therapieansätze beitragen.

Die Arbeitsgruppen von Prof. Dr. Siegrid Löwel, Abteilung Systemische Neurobiologie am Institut für Zoologie und Anthropologie der Universität Göttingen, und Dr. Dr. Oliver Schlüter, Arbeitsgruppe Molekulare Neurobiologie am European Neuroscience Institute Göttingen (ENI-G), haben jetzt einen neuartigen Mechanismus zur Regulation von „kritischen Phasen“ der Hirnentwicklung entdeckt. Sie fanden heraus, wie die Reifung von Nervenzellverbindungen und das Schließen der kritischen Phase für eine bestimmte Form der Anpassungsfähigkeit neuronaler Schaltkreise in der Sehrinde (Plastizität) gesteuert wird.

Bisher ging die Forschung davon aus, dass kritische Phasen über die Entwicklung lokaler Hemmung und die Expression sogenannter Plastizitäts„bremsen“ beendet werden. Die Ergebnisse der Göttinger Forscher zeigen nun, dass ein einziges Protein ausreicht, um die Dauer kritischer Phasen zu regulieren, und dass dies unabhängig von veränderter Hemmung passiert. Bei dem Protein handelt es sich um die postsynaptische Dichte 95 (PSD-95). PSD-95 ist dafür verantwortlich, Signalprozesse zu koordinieren. Bei vergleichenden Untersuchungen zeigen Mäuse ohne PSD-95, sogenannte Knock-out Mäuse für PSD-95, eine lebenslange Lernfähigkeit (Plastizität) in der Sehrinde, wie sie sonst nur bei jungen Wildtypmäusen während der kritischen Phase beobachtet wird. Die Erkenntnisse wurden in enger Kooperation der Arbeitsgruppen von Prof. Dr. Siegrid Löwel und Dr. Dr. Oliver Schlüter im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Zelluläre Mechanismen sensorischer Verarbeitung“ (SFB 889) gewonnen. Die Forschungsergebnisse sind veröffentlicht in der renommierten amerikanischen Fachzeitschrift PNAS.

Originalpublikation: Huang, X.*, Stodieck, S.K.*, Goetze, B., Schmidt, K.-F., Cui, L., Wenzel, C., Hosang, L., Dong, Y., Löwel, S.* und Schlüter, O.M.* (2015) The Progressive Maturation of Silent Synapses Governs the Duration of a Critical Period. Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 2015 May 26. pii: 201506488. [Epub ahead of print]. *gleicher Beitrag.

WAS MACHT PSD-95 GENAU?

Das Protein PSD-95 ist notwendig, um die Kontaktstellen zwischen Nervenzellen (Synapsen) reifen zu lassen. „Ohne PSD-95 bleibt die Hälfte aller Synapsen in der Sehrinde lebenslang „still“. Solche „stillen Synapsen“ enthalten nur NMDA-Rezeptoren, die unter normalen Bedingungen nicht aktiviert werden. Sie können keine elektrische Erregung an der nachfolgenden Zelle auslösen – und damit auch keine Information weiterleiten“, sagt Dr. Dr. Oliver Schlüter. „Normalerweise werden mit der Synapsenreifung sogenannte AMPA-Rezeptoren in die Postsynapse eingebaut. Für diesen Schritt ist PSD-95 notwendig.“ Die „gereiften“ Synapsen sind nicht mehr still, sondern leiten Signale von einer zur nächsten Nervenzelle weiter.

“Wir konnten zudem nachweisen, dass PSD-95 nicht nur für die Reifung junger Synapsen, sondern auch für die Stabilisierung reifer Synapsen nötig ist: Wird bei bereits ausgereiften Schaltkreisen, nach Beendigung der kritischen Phase, die Expression des PSD-95 herunterreguliert (knock-down), stellt sich der „junge“ Synapsenzustand und die jugendliche Plastizität wieder her“, sagt Prof. Dr. Siegrid Löwel.

SFB 889: ERFOLG DURCH KOMBINIERTE EXPERTISE

Um überhaupt zu diesen neuen Forschungserkenntnissen über die „kritischen Phasen“ der Hirnentwicklung zu kommen, mussten die Forscher im SFB 889 unterschiedliche Techniken zusammenbringen: Die verwendeten Methoden reichen von der Manipulation der Expression einzelner Moleküle über patch-clamp Untersuchungen in Hirnschnitten und biochemischen Analysen bis zu optischen Ableitungen neuronaler Aktivität in der Hirnrinde und Verhaltensuntersuchungen der Sehleistungen der genmanipulierten Mäuse. Nur durch die kombinierte Expertise und intensive Zusammenarbeit der beiden Göttinger Labore von Prof. Dr. Siegrid Löwel und Dr. Dr. Oliver Schlüter war es möglich geworden, alle nötigen Experimente für eine solch umfassende Analyse durchzuführen. „Diese Zusammenarbeit ist ein Paradebeispiel dafür, was ein SFB optimalerweise bewirken kann“, sagt Prof. Dr. Tobias Moser, Sprecher des SFB 889. „Durch das Zusammenführen von Arbeitsgruppen unterschiedlicher Expertise, die gemeinsam an einem neuen Thema arbeiten, lässt sich mehr erreichen als jede Gruppe für sich allein in der Lage gewesen wäre.“

HINTERGRUNDINFORMATIONEN

Nervennetzwerke der Hirnrinde bilden sich zunächst hauptsächlich unter genetischer Kontrolle, benötigen dann aber Erfahrung und Training, um ihre funktionellen und strukturellen Eigenschaften zu formen und ihre Fähigkeiten zu optimieren. Es wird angenommen, dass es sich bei dieser erfahrungsabhängigen Optimierung um einen generellen Entwicklungsprozess handelt, der für alle funktionellen Bereiche der Hirnrinde gilt und seinen Höhepunkt typischerweise während bestimmter Zeitfenster, sogenannter „kritischer Phasen“ der Entwicklung, hat: Junge Gehirne während dieser Phasen sind im Allgemeinen wesentlich „plastischer“, also lernfähiger, als ältere Gehirne. Bekannte Beispiele für solche kritischen Phasen sind: die Nachlaufprägung und das Gesangslernen bei Vögeln; der Erwerb kognitiver Funktionen wie linguistische und musikalische Fähigkeiten beim Menschen; sowie die verschiedenen Merkmale sensorischer Modalitäten. Charakteristisches Merkmal kritischer Phasen ist, dass eine bestimmte Erfahrung in einem begrenzten Zeitfenster gemacht werden muss, damit sich das neuronale Netzwerk und seine Leistungsfähigkeit optimal entwickeln kann. Das Fehlen bestimmter sensorischer Reize in diesen Zeitfenstern, z.B. von visuellen Reizen (durch eine trübe Linse oder ein hängendes Augenlid) während der Entwicklung der Sehrinde, also desjenigen Teils der Hirnrinde, der Sehreize verarbeitet, kann zu irreversiblen Beeinträchtigungen der Sehleistungen im späteren Leben führen.

SFB 889 „ZELLULÄRE MECHANISMEN SENSORISCHER VERARBEITUNG“

Der Sonderforschungsbereich „Zelluläre Mechanismen sensorischer Verarbeitung“ (SFB 889) will die wichtigsten menschlichen Sinne „Sehen, Hören, Riechen, Tasten“ besser verstehen. Die Forschung des SFB 889 wird seit 2011 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Sprecher des Sonderforschungsbereichs ist Prof. Dr. Tobias Moser, Direktor des Instituts für Auditorische Neurowissenschaften der Universitätsmedizin Göttingen (UMG). Wissenschaftler aus 23 Arbeitsgruppen aus den verschiedenen Bereichen der Neurowissenschaften am Standort Göttingen arbeiten in 21 Projekten zusammen. Beteiligt sind Forscher aus sechs Kliniken und Instituten der Universitätsmedizin Göttingen, aus dem Europäischen Neurowissenschaftlichen Institut (ENI-G), der Biologischen Fakultät der Universität Göttingen, aus dem Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie, dem Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin sowie dem Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation sowie dem Deutschen Primatenzentrum.



WEITERE INFORMATIONEN:
Georg-August-Universität Göttingen
Fakultät für Biologie und Psychologie
Johann-Friedrich-Blumenbach-Institut für Zoologie und Anthropologie
Abteilung Systemische Neurobiologie
Prof. Dr. Siegrid Löwel
Telefon 0551/39-20161/-20160
sloewel@gwdg.de, Internet: http://systemsneuroscience.uni-goettingen.de/

European Neuroscience Institute Göttingen (ENI-G)
Molecular Neurobiology
Dr. Dr. Oliver M. Schlüter
Telefon 0551/39-10374
oschlue@gwdg.de, Internet: www.eni.gwdg.de/index.php?id=101