Theodor Fontane: Literaturkritik. Große Brandenburger Ausgabe. Das kritische Werk, Band 6–7
Bandherausgeber
Theodor Fontane als Literaturkritiker und -beobachter
Das über vierzig Jahre – von den frühen 1850ern bis in die 1890er Jahre – währende literaturkritische und -essayistische Schaffen Theodor Fontanes ist so vielfältig wie die Gegenstände, denen es sich widmet, und die soziomedialen Kontexte, in denen die Rezensionen, Aufsätze, Essays, Miszellen und Reflexionen produziert bzw. publiziert werden. Neben einem programmatischen und der Literaturgeschichtsschreibung bis heute als Referenz dienenden Aufsatz wie »Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848« (1853) stehen literaturjournalistische Tagesarbeiten; neben Studien zu großen Autoren der Vergangenheit und der Gegenwart (Goethe, Schiller, Jean Paul, Achim von Arnim, Theodor Storm, Walter Scott, Gustav Freytag, Wilibald Alexis, Paul Heyse u.v.m.) stehen Rezensionen zur populären Poesie und Belletristik; neben oftmals sensibel der handwerklichen Detailkritik verschriebenen Briefpassagen stehen den Literaturbetrieb der Zeit überblickende Journalrundschauen und literatursoziologische Skizzen (so »Die gesellschaftliche Stellung der Schriftsteller«, 1891). Dabei liegt der literaturkritischen Produktion Fontanes ein weiter Literaturbegriff zugrunde: Nicht nur der im engeren Sinne ›schönen Literatur‹ widmet sich der Kritiker, sondern etwa auch der populären Historiographie, der Erinnerungsliteratur oder der Literaturgeschichtsschreibung.
Charakteristisch für Fontanes kritisches Schaffen ist eine medien- und situationsabhängige Schreibweise, die sowohl den spezifischen Genres des Literaturjournalismus als auch der Position des jeweiligen Publikationsorgans im literarischen Feld Rechnung trägt – literatur-kritische Texte von Fontane erschienen in so unterschiedlichen Organen wie »Deutsche Reform«, dem »Wochenblatt des Johanniter-Ordens-Balley Brandenburg«, der »Neuen Preußischen Zeitung« (›Kreuz-Zeitung‹), der »Gartenlaube«, dem »Magazin für die Literatur des In- und Auslands« und nicht zuletzt in der »Königlich privilegierten Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen« (›Vossische Zeitung‹). Der Differenziertheit der literarischen Landschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begegnet Fontane dabei mit einer dezidiert antisystematischen Wertungspraxis. Zwar bildet die ›Realismusforderung‹ (Hans-Heinrich Reuter) gewissermaßen den Grundbass der Fontane'schen Kritiken und Essays; die konkrete Wertung orientiert sich jedoch undogmatisch an der Spezifik des einzelnen Werks, das an seinem jeweils individuellen Anspruch gemessen wird.
Aufgrund seines Facettenreichtums spiegelt Fontanes literaturkritisches und -essayistisches Werk, als Zeugnis einer praktizierten Poetik, nicht nur die vielstimmige Aushandlung realistischer Schreibweisen im 19. Jahrhundert; es gibt auch einen Einblick in das Tagesgeschäft und die Textsortenkompetenz eines professionellen Kultur- und Literaturjournalisten und damit in die Sozial- und Institutionengeschichte des Journalismus.
Fontanes »Literaturkritiken und -essays« in der Großen Brandenburger Ausgabe
In der Großen Brandenburger Ausgabe werden erstmals sämtliche literaturkritischen und literaturessayistischen Texte Theodor Fontanes in ihrer historischen Gestalt kritisch ediert. Die forschungs- und quellengeschichtlich fundierte Kommentierung wird über entstehungs- und druckgeschichtliche Hintergründe informieren, wird die umfangreichen literarischen, poetologischen und biografischen Details aufschließen und wird grundlegend die sozial- und mediengeschichtlichen Kontexte erhellen, in denen Fontanes Texte stehen und von denen sie durchwirkt sind. Textgenetische und produktionsästhetische Fragen sollen dabei exemplarisch durch Rückgriff auf Aufzeichnungen aus Fontanes Notizbüchern und weiteren Konvoluten aus seinem Nachlass diskutiert werden. Im Sinne der Zeitungs- und Zeitschriftenforschung wird darüber hinaus dem spezifischen Charakter der Publikationsmedien eine zentrale Bedeutung beigemessen: Für eine adäquate historische Bewertung des literaturkritischen und -essayistischen Werks ist entsprechend sowohl die Diversität und Relationalität des ›printmedialen Feldes‹ insgesamt zu berücksichtigen als auch die spezifische Kompositionalität und Sozialität einzelner Printmedien. Abgeschlossen werden die Bände von annotierten Personen- und Werkregistern.
(Peer Trilcke)