Wir über uns


Was ist Kulturelle Musikwissenschaft? Vielleicht: der Versuch, die Musiken der Welt und ihre dichten Bedeutungsgewebe zu begreifen, und nicht aufzugeben, fortwährend neue Wege zu solchem Begreifen zu suchen.

Der Begriff der Kulturellen Musikwissenschaft bzw. der Cultural Musicology kursiert seit etwas mehr als einem halben Jahrhundert. „Musik“, das bedeutet für uns in Göttingen: „alle Musiken der Welt“, – was grundsätzlich auch das Repertoire und die Praktiken der so genannten europäischen Kunstmusik einschließt. Sofern Gegenstandsbereich und Erkenntnisinteresse der Vergleichenden Musikwissenschaft und der Musikethnologie vor dem Aufkommen der (inzwischen leicht gealterten) New Musicology überhaupt jemals klar schienen, – man denke an epistemologisch so schwierige Konzepte wie „volkstümlich“, „nicht-westlich“, oder „das Andere“ –, dann hat das zwischenzeitlich vom Stein des Anstoßes zu einer Standardposition avancierte Denken der New Musicology überdeutlich gemacht, was schon lange vor seiner Verbreitung kaum mehr zu leugnen war: die angenommenen Grenzen zwischen den drei traditionellen Fachzweigen der Musikwissenschaft (die Historische, die Systematische, die Vergleichende Musikwissenschaft) verschwimmen mehr und mehr. Diese Entwicklung war unvermeidlich, verschwimmen doch auch die angenommenen Grenzen zwischen den Musiken, mit denen sich diese Fachzweige, primär gegenständlich definiert wie sie sind, vornehmlich beschäftigt haben und noch beschäftigen.

Kulturelle Musikwissenschaft will diesem Prozess, der nicht zuletzt andauernden Dekolonialisierungsprozessen und den Realitäten einer dynamisch-postkolonialen Welt geschuldet ist, besser gerecht werden. Sie ist nicht durch ihren Gegenstand definiert, auch wenn sie ursprünglich zu beträchtlichem Teil bestimmten Strömungen der Musikethnologie entwachsen ist. Ebenso wenig ist sie eine Methodologie, – ein Begriff, mit dem Musikethnologen ihre Disziplin nach wie vor gern umschreiben. Methodologische Reflexion ist ein Herzstück der Kulturellen Musikwissenschaft, doch ist dies ein kontinuierlicher und dynamischer Prozess, kein unveränderlicher Parameter. Kulturelle Musikwissenschaft, wie wir sie hier in Göttingen leben, kann am besten als eine Anzahl von Fragen an und Perspektiven auf Musik beschrieben werden. Vielleicht sollten wir, in Analogie zur visuellen Metapher des Wortes “Perspektive”, besser von einer „Per-audi-tive“ sprechen, sind doch die Fragen, die wir an das aurale Phänomen Musik stellen und die Musik uns beantworten kann, nie frei von Subjektivität. Kulturelle Musikwissenschaft fragt nach den musico-logicas hinter den Musiken der Welt, also danach, wie in und über Musik (nach)gedacht wird, was alles ihre musikalischen Strukturen und Klangästhetik ausmacht, was die komplexen Bedeutungen kennzeichnet, die ihr zugeschrieben werden und wie dieser Prozess der Bedeutungsschreibung abläuft.

Doch, Moment -– ist denn nicht jede Musikwissenschaft notwendig „kulturell“? Eine Beschäftigung mit Musik, die kulturelle Kontexte gänzlich außer Acht lässt, ist von wenigen Ausnahmen abgesehen in der Tat kaum denkbar. Gleiches gilt für die historische Dimension, die für die Historische Musikwissenschaft nach wie vor unangezweifelt namensstiftend ist, obwohl auch die Historische Musikwissenschaft ganz selbstverständlich nach kulturellen Dimensionen fragt. Das „kulturell“ in „Kulturelle Musikwissenschaft“ will also gar keinen Exklusivheitsanspruch erheben – im Gegenteil. „Kulturell“ ist hier ein prädikatives, kein attributives Adjektiv: es bezieht sich nicht auf die Musikwissenschaft selbst, sondern auf ihre Perspektive – und damit auf ihr zentrales Erkenntnisinteresse. Trotz oder gerade wegen dieses zentralen Erkenntnisinteresses bewahrt sich die Kulturelle Musikwissenschaft immer die Freiheit, auch nach historischen und sozialen Parametern zu fragen. Es sind schließlich zunächst die Musiken der Welt, die unsere erkenntnisleitenden Fragen bedingen sollen, nicht wissenschaftssystemische Strukturen.