Profilbildung an Hochschulen - Grundlage für Qualität und Exzellenz
30. Juni 2004 Berlin
Meine Damen und Herren, einige grundsätzliche Vorbemerkungen. Die Universität Göttingen ist, das ist ja schon einige Male als Begriff gefallen, eine klassische Volluniversität – Sie sehen hierzu einige charakteristische Daten – , die das nahezu vollständige Fächerspektrum einer deutschen Universität bietet.
Die Universität Göttingen hat kein differenziertes Leitbild, wie es heute von einigen meiner Vorredner vorgestellt worden ist, aber es bestehen konkrete Zielvorstellungen. Zwei sind uns besonders wichtig: Wir wollen unsere Leistungen so weiterentwickeln, dass wir unsere Position als international anerkannte Forschungsuniversität mit einem Schwerpunkt in der forschungsbezogenen Lehre sichern und ausbauen. Eine solche Forderung muss man natürlich operationalisieren: Als Maßgröße könnte man beispielsweise vorgeben, dass mindestens zehn Bereiche unserer Universität auf ihren jeweiligen Gebieten zu den Top fünf in Deutschland gehören sollen, nachweisbare Aktivitäten entfalten und auf diese Weise in die internationale Spitzengruppe kommen. Das zweite für uns wichtige Merkmal ist, als „klassische Universität“ zu bestehen: Die Universität Göttingen möchte die Vielfalt ihrer Fächer auch künftig bewahren. Das ist keine ideologische sondern eine ganz praktische Position. Wir sind davon überzeugt, und das zeigt sich auch in den Beispielen, die ich im Anschluss schildern werde, dass einer der größten Vorteile der Georg-August-Universität in ihren unterschiedlichen Wissensbeständen auf unterschiedlichen wissenschaftlichen Feldern liegt. Diese mannigfaltigen Wissensbestände können in Bezug auf neue Forschungsfragen rasch kombiniert werden, was in unseren Augen einen klaren Vorteil darstellt. Gleichzeitig wird diese Fächervielfalt für die angestrebte Profilbildung unserer Hochschule benötigt. Allerdings möchte ich hervorheben, dass diese grundlegend positive Einstellung zur Volluniversität keineswegs im Umkehrschluss bedeutet, dass jedes unserer Fächer sakrosankt ist. Ausgehend von der Vergegenwärtigung der komparativen Vorteile, stellt sich vielmehr die Frage, was man an Ressourcen, an Kompetenzen und an Expertise zur Verfügung hat und wie man darauf aufbauend in der Zukunft gestalten möchte. Von dieser Vergewisserung ausgehend, haben wir einige Projekte entwickelt, die ich nun genauer erläutern möchte. Wir sehen unsere komparativen Vorteile im Wesentlichen in vier Punkten:
1. Die geforderte Internationalisierung deutscher Hochschulen kann unsere Universität bereits vorweisen. Dazu sind einige Aspekte in der folgenden Übersicht aufgeführt, die ich hier im Einzelnen sicherlich nicht weiter erläutern muss.
2. Unsere teils rudimentären, teilweise auch bereits international sichtbar entwickelten Forschungsschwerpunkte liegen vielfach quer zu den klassischen Disziplinen. Die Forschungsschwerpunkte einer Hochschule spielen natürlich eine entscheidende Rolle für ihre Positionierung und hier kommt die Relevanz der bereits genannten Fächerbreite unserer Universität wieder zum Ausdruck. Die Schwerpunkte der Universität Göttingen sehen wir auf folgenden Feldern:
- Biouniversität und Umweltforschung
- Molekulare Biowissenschaften
- Neurowissenschaften
- Geowissenschaften
- Frühneuzeitwissenschaften
- Sprachen und Kulturen des vorderen Orients.
Auf diese Auflistung möchte gleich näher eingehen, obwohl mir das aus Zeitgründen leider nur begrenzt erlaubt ist. Zudem wäre auch die fachbezogene Schwerpunktsetzung zu erwähnen, die aber ein eigenes Aktionsfeld darstellt.
3. Ein wesentliches Element der komparativen Vorteile unserer Universität sind die vielfältigen Möglichkeiten zur Vernetzung mit außeruniversitären Einrichtungen. Dies ist eine Spezifität unseres Standorts: Göttingen ist eine relativ kleine Stadt mit kurzen Distanzen und gleichzeitig einer großen Vielzahl von außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Ein wichtiges Element dessen, was wir als Profilbildung betreiben, und in den letzten Jahren mit gewissem Erfolg auch bereits betrieben haben, ist die Einbeziehung und Integration dieses außeruniversitären Kompetenznetzes, welches am Forschungsstandort Göttingen vorhanden ist, in unsere universitären Profilbildungsprozesse und damit verbunden die Überbrückung der institutuionellen Abgrenzung, die sehr oft zwischen Universität und Max-Planck-Instituten und anderen Einrichtungen dieses Typs herrscht.
Vielleicht ist dieser Prozess eher schon als Profilbildung selbst zu bezeichnen, anstatt ihn als komparativernVorteil darzustellen, denn unsere Bemühungen diesbezüglich sind kontinuierlich und dauern bereits seit Jahren an.
4. Die Universität Göttingen ist bemüht, eine Organisationsform zu entwickeln, die ihr eine Chance auf autonomes Handeln eröffnet, denn die von mir dargestellten Potenziale kann man nur dann vernünftig nutzen, wenn man eigene Strategien entwickeln und umsetzen kann. Dafür muss man dann möglicherweise auch den Weg der Re-Organisation der Universität selbst gehen. Dafür wurde in Göttingen im Wesentlichen Folgendes gemacht: Das niedersächsische Hochschulrecht bietet die Möglichkeit, die Universität in eine Stiftung öffentlichen Rechts zu verwandeln. Zusammen mit vier anderen niedersächsischen Hochschulen hat die Universität Göttingen diese Chance auf Zugewinn an Autonomie genutzt, denn damit sind Gestaltungsmöglichkeiten entstanden, die in vielen anderen Bundesländern und ihren Hochschulen noch immer pures Programm sind. So besitzt die Universität Göttingen ein eigenes Berufungsrecht, das heißt, es kann ohne die Einflussnahme des Ministeriums berufen werden. Zudem hat unsere Universität ein eigenes Vermögen – zwar kein riesiges, aber immerhin das Eigentum an den eigenen Liegenschaften und dazu die Bauherreneigenschaft. Die Universität Göttingen kann auf diesen Feldern demnach relativ selbstständig operieren. Die Steuerung der Universität erfolgt anhand eines Stiftungsrats, auf dessen Zusammensetzung die Körperschaft der Universität einen großen Einfluss hat. Meines Erachtens ist es gelungen, für diese Aufgabe einen hochkarätigen und sehr kompetenten Stiftungsrat zu gewinnen. Analog zu den staatlichen Hochschulen hat die Universität auf der Grundlage von Zielvereinbarungen eine ziemlich große Haushaltsautonomie gewonnen. Sie besitzt als Stiftungs-hochschule jedoch die Möglichkeit, öffentlich-rechtliche Verträge mit dem Land abschließen zu können, da eine Stiftungshochschule einen eigenen Rechtskörper darstellt, und es für das Land – nun muss ich vorsichtig formulieren – nicht einfach ist, innerhalb vereinbarter Laufzeiten in diese Verträge einzugreifen. Das führt natürlich insgesamt zu der Frage – das ist heute schon angesprochen worden –, wie autonom eine Hochschule überhaupt sein kann. Es ist Ihnen sicherlich nicht verborgen geblieben, dass Niedersachsen eine Landesregierung hat, die wieder stark zu einer Detailsteuerung ihrer Hochschulen neigt. Diese Handlungsweise gefährdet die gerade erst gewonnenen Autonomiespielräume in beträchtlichem Umfang, kann sie uns letztlich aber nicht völlig nehmen.
Die Universität Göttingen wurde intern mittlerweile so umgestaltet – wir nennen diesen Prozess „Rückgekoppelte Autonomie“ –, dass vor allem in Finanzfragen ein ausbalanciertes Verhältnis zwischen den Fakultäten einerseits und dem Präsidium andererseits vorhanden ist. Die Balance funktioniert zwar noch nicht perfekt, spielt sich mit der Zeit jedoch immer besser ein.
Nun zu den Erläuterungen zur Schwerpunktbildung an der Georg-August-Universität, die ausgehend von der Identifikation unserer komparativen Vorteilen stattfindet. Das erste konkrete Beispiel: die Neurowissenschaften. Hier existiert bereits seit längerer Zeit eine außerordentliche Forschungsintensität, die sich vortrefflich in den Sonderforschungsbereichen und im 2002 eingerichteten DFG-Forschungszentrum Molekularphysiologie des Gehirns zeigt. Bereits seit 1998 bemühen sich die beteiligten Fachbereiche an der Göttinger Universität, neue Organisationsformen zu entwickeln: Beispielsweise wurde das Göttinger Zentrum für Molekulare Biowissenschaften (GZMB) gegründet; das ist eine Einrichtung, die über mehrere Fakultäten hinweggeht und zwei leistungsstarke Max-Planck-Institute sowie das Deutsche Primatenzentrum in Göttingen einbezieht. Außerdem kam es zur Gründung einer weiteren Einrichtung, dem Europäischen Neurowissenschaftlichen Institut (ENI), das wiederum dem Ziel dienen soll, neue Wege zu erschließen und umfassendere Kooperationszusammenhänge zu schaffen. Darauf aufbauend bzw. diese Ansätze erweiternd wurde im Jahre 2002 ein Zentrum für Neurobiologie des Verhaltens gegründet, also einer Komplementäreinrichtung zu den Einrichtungen, die vor allem auf molekularer Ebene in den Neurowissenschaften tätig sind. Auch diese Neugründung fand nach dem Prinzip „Nutzung der Expertise, die wir am Ort haben“ statt. Ich denke, dass wir nun durch einen weiteren Schwerpunkt in diesem Bereich in den Computational Neuroscience diesen Prozess abschließen können. Die Universität Göttingen bewirbt sich hier im Rahmen eines Programms des BMBF, und soweit ich gehört habe, haben wir gute Chancen. Sollte unsere Universität auch hier eine Zusage erhalten, dann wird es ein echter Schwerpunkt sein, der aus der Entfaltung der aktiven Vorteile hervorgegangen ist. Dann könnte man ohne Übertreibung behaupten, dass die Universität Göttingen in den Neurowissenschaften mindestens den zweiten Platz in Deutschland belegt.
Dies alles ist nicht nur relevant für die Forschung, sondern auch für die Lehre. Die Universität hat in den letzten Jahren über die kooperativen Berufungen hinaus, die z. B. schon mit dem Max-Planck-Institut existieren, Brücken-Professuren eingerichtet, die von mehreren Einrichtungen getragen werden. Diese neuen Ressourcen dienen gleichzeitig der Vernetzung in der Forschung und ebenso der Entwicklung neuer Studienprogramme ausgehend von den Graduiertenkollegs. Interessant und neu ist, dass wir in diesem Rahmen in den Neurowissenschaften und in der Molekularen Biologie internationale Studienprogramme forschungsbezogen aufgebaut haben, und zwar in einer Weise, dass Ph.D.-Studienprogramme mit einer International Max-Planck-School verbunden werden. Auch hier, in der Lehre, wird also der Ansatz der Verknüpfung zwischen dem Potenzial der Universität und dem Umfeldpotenzial erkennbar. Wir rekrutieren die Studierenden in diesen englischsprchigen vom DAAD geförderten Studienprogrammen in einer großen internationalen Ausschreibung, als Resultat haben diese Studiengänge einen Anteil von 50 bis 70 Prozent ausländischer Studierender vorzuweisen.
Ein zweites Beispiel für die Schwerpunktbildung an der Georg-August-Universität ist die Forschung zum Thema Biodiversität und Globaler Wandel. Die Universität profitiert hier von dem in Deutschland einmaligen Standortvorteil einer Konzentration von vier „grünen“ Fakultäten (Biologie, Agrarwissenschaften, Forstwissenschaften und Geowissenschaften). Der Prozess der Schwerpunktbildung und Vernetzung wurde analog zur Fortentwicklung der Neurowissenschaften angelegt, ist jedoch noch nicht so weit entfaltet. Auch hier bilden die Sonderforschungsbereiche und andere Institutionalisierungen von kooperativer Forschung in Forschergruppen den Ausgangspunkt. Das Tropenzentrum unserer Universität bündelt bereits seit 1963 zum Thema Agrar-und Forstwissenschaften der Tropen und Subtropen die Forschungskompetenzen verschiedener Fakultäten und außeruniversitärer Einrichtungen. Das Forschungszentrum Ökologiesysteme wurde in jüngerer Zeit zum Ausgangspunkt für das 2001 gegründete Göttinger Zentrum für Biodiversitätsforschung und Ökologie. Dort kommt wieder das Instrument der Brücken-Professur zum Einsatz, nur in einem kleineren Maßstab als in dem neurowissenschaftlichen Beispiel. Auch diesbezüglich bestehen Kooperationen mit dem Deutschen Primatenzentrum (DPZ) und auch in diesem Beispiel liegt eine Stärke des Schwerpunktes in der konsequenten Verbindung von Forschung und forschungsorientierter Lehre.
Zum Schluss möchte ich auf drei Problemfelder der von uns erprobten Vorgehensweise an der Universität Göttingen zu sprechen kommen. Erstens versuchen wir uns der Herausforderung zu stellen, auch Geisteswissenschaften in dieses Konzept einzube-ziehen. Es erweist sich jedoch als überaus schwierig, das beschriebene Modell auf geisteswissenschaftliche Fachbereiche und Studiengänge zu übertragen. Auf der zu Beginn gezeigten Liste verschiedener Forschungsschwerpunkte waren zwei geisteswissenschaftliche Schwerpunkte, nämlich das Zentrum für Mediävistik und Früh- und Neuzeitforschung und das Orientalistikzentrum aufgeführt. Die Universität bemüht sich außerordentlich, auch diese Zentren nach dem vorgestellten Prinzip weiterzuentwickeln. Wir haben zum Beispiel ein Max-Planck-Institut für Geschichte am Ort, das in dem genannten Zentrum für Mediävistik eine Rolle spielt. Sie können auch internationale Studienprogramme vergleichbarer Art machen, wie uns das im Bereich der Mittelalter- und Frühneuzeitstudien gelungen ist, aber die strukturierte Ausbildung von Promovierenden ist in den mathematisch -naturwissenschaftlichen und den grünen Fakultäten bereits wesent-lich stärker entwickelt als in den Geistes- und Gesellschafts-wissenschaften. Darin liegt ein Problem der Balance in der Universität, das wir in Göttingen bisher nicht gelöst haben, das will ich in aller Offenheit zugeben.
Zweitens ist es innerhalb der Universität nicht unproblematisch, Exzellenzschwerpunkte zu identifizieren und festzuschreiben. Tatsache ist nun einmal, dass die Universität Göttingen eine Reihe von Fächern aufweist, die klassisch definiert sind, die in quer zu den Fächergrenzen verlaufende Strukturen nicht hineinpassen. Die Göttinger Fakultäten für Chemie und für Physik sind in ihrem Kontext sicherlich als exzellent zu bezeichnen, vielleicht gehören sie gar zu den besten in Deutschland. Gleichwohl muss man zugeben, dass sie im Hinblick auf die nun wichtigen Querbezüge nicht so stark vernetzt sind, wie es für die von mir geschilderte Zentrenbildung charakteristisch ist bzw. sein sollte. Ähnliches kann man wohl auch von der Fakultät für Mathematik und für Geisteswissenschaften wie z. B. die Germanistik feststellen. Das hier zu lösende Problem: Wenn wir diese fachbezogenen Exzellenzen weiter fördern und fortentwickeln wollen, wie bringen wir das in Übereinstimmung mit einer Entwicklungspolitik, die wie ich gesagt habe, einen sehr starken Akzent auf die Bildung von Zentren legt. Ich habe dafür keine Antwort – aber darin liegt in der Tat ein Problem.
Die dritte und letzte Schwierigkeit: Eine unausbalancierte Bilanz zwischen den verschiedenen Fächern unserer Universität. Das Beispiel Neurowissenschaften zeigt, dass die Universität Göttingen Fächer hat, die national und international als führende Einrichtungen bezeichnet werden können. Eigentlich muss dort seitens der Universität nicht mehr viel investiert werden, diese Bereiche bedürfen eher einer konstanten Pflege. Doch stehen in der Ebene darunter natürlich viele weitere als exzellent zu bezeichnende Fakultäten und Fächer, wie das Beispiel Wirtschaftswissenschaften belegt. Dort arbeiten viele neuberufene Mitarbeiter, die ein großes Potenzial besitzen, das jedoch noch nicht in die von mir beschriebene Organisationsstruktur passt.
Die Aufgabe besteht nun darin, dass wir diese Exzellenzen nicht abhängen dürfen. Wir müssen sie im Gegenteil integrieren, insbesondere um der Gefahr im Prozess der Profilbildung zu begegnen, dass man sich vollkommen auf die bereits definierten Ziele konzentriert und die Potenziale verspielt, die es darüber hinaus auch gibt. Dieses Problem dürfte in den Fällen, in denen kaum Arbeit in der Forschung, aber exzellente Arbeit in der Lehre stattfindet, noch größer sein. Von diesen Bereichen können wir uns jedoch nicht so einfach trennen, denn das sind unsere „Cash-Cows”, jedenfalls was die staatliche Finanzierung angeht. Diese Balance ist bisher nicht gut abgestimmt und ich muss sagen, hier bestehen keine wirklichen Profile, sondern nur Ansätze zur Profilentwicklung. Die Universität Göttingen befindet sich diesbezüglich eher noch in einer Experimentierphase.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Veröffentlichung:
Profilbildung an Hochschulen – Grundlage für Qualität und Exzellenz, Workshopreihe „Von der Qualiitätssicherung der Lehre zur Qualitätsentwicklung als Prinzip der Hochschulsteuerung“ (ed.) Beiträge zur Hochschulpolitik, Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Veröffentlichung im September 2005 geplant.